Der Markusplatz in Venedig gehört den Tauben und den Touristen, die hier in kurzen Hosen den Campanile fotografieren oder sich in weiten Leinenhemden überteuerten Espresso von Kellnern, die weiße Fliegen tragen, servieren lassen. Die Bebauung, die den Platz auf drei Seiten rahmt, wirkt auf den ersten Blick homogen. Ihr ältester Bauteil, die Procuratie Vecchie an der Nordseite, war einst Sitz der venezianischen Baubehörde und wurde von Bartolomeo Bon im 16. Jahrhundert in seine heutige Form gebracht. Das Gebäude mit dem stadtbildprägenden Arkadengang diente der Generali-Versicherung bis in die Achtzigerjahre als schnödes Bürogebäude, anschließend wurde versucht, den Bau als „Co-Working-Hub“ zu vermarkten; die lieblos gestaltete Minibibliothek gibt einen Hinweis darauf, warum der Erfolg ausblieb.
Nun ist es auf einen Schlag zu einem der anregendsten Kunstorte in Venedig geworden, einer Stadt, die bekanntlich keinen Mangel an solchen Einrichtungen hat. Im zweiten Stock des Gebäudes, das über fünf Jahrhunderte hinweg für die Öffentlichkeit unzugänglich war, wurde Platz für das neue San Marco Art Center (SMAC) geschaffen. Auf mehr als tausend Quadratmeter Fläche sollen jährlich zwei bis vier große Ausstellungen zu den Themen Kunst, Architektur, Design, Mode und Film zu sehen sein.

Das SMAC entstand im Zuge der Sanierung der gesamten Procuratie Vecchie durch den britischen Architekten David Chipperfield im Auftrag des Eigentümers Generali. Entlang eines 80 Meter langen Korridors liegen insgesamt 16 Galerien. Chipperfield hat – wie zuvor beim Neuen Museum in Berlin – einfühlsam viele Details der Prokuratien restauriert und um elegante zeitgenössische Zutaten ergänzt, die als solche klar erkennbar sind. Die Wände des neuen Kunstzentrums sind mit hellgrauem venezianischen Marmorino verkleidet, die Böden hingegen bestehen aus weißem Terrazzo. In einigen Galerien sind die herrlichen Decken-Balken aus der Renaissance zu sehen. Die beiden Veranstaltungsräume des SMAC haben Fresken aus der Zeit Napoleons, dem einst nebenan in den Neuen Prokuratien eine Wohnung eingerichtet worden war, von der er einen ähnlich herrlichen Blick auf das Leben auf dem Markusplatz werfen konnte wie heute die Museumsbesucher durch eines der 58 Fenster.
Chipperfield öffnet, Koolhaas schließt
Chipperfield hat dezent neue Verbindungswege, Aufzüge, behindertengerechte Zugänge und eine Dachterrasse in die Prokuratien eingefügt, ohne den repetitiven Charakter des Gebäudes zu sehr zu stören. Die Einbauten erhielten Kalkspachtel-Oberflächen, die hellen Böden und Treppen Oberflächen aus Cocciopesto (Luftkalkmörtel) und Pastellone, einem Kalk-Estrich. Die Türwandungen kontrastieren mit den groben Backsteinwänden.
Die Idee, unterschiedliche Zeitschichten zu inszenieren anstatt sie zu verkleistern, passt gut in die Stadt des Meisterarchitekten Carlo Scarpa, dessen berühmter Olivetti-Showroom direkt neben dem neuen Eingang zum SMAC liegt. Der nahegelegene Fondaco dei Tedeschi am Canale Grande hingegen, der ehemalige Stützpunkt der deutschen Händler in Venedig, der vom niederländischen Architekten Rem Koolhaas nach langen Auseinandersetzungen um das zulässige Ausmaß seiner Eingriffe zum Luxus-Einkaufszentrum umgebaut wurde, ist im Mai nach nicht einmal zehn Jahren wieder geschlossen worden und steht leer. Auch prominenteste Architekten garantieren keinen Erfolg bei der Umnutzung von historisch besonders wertvollen Gebäuden in Venedig.

Die beiden Eröffnungsausstellungen des SMAC konzentrieren sich – aus Anlass der 19. Architekturbiennale – auf zwei Pioniere der modernen Baukunst. Sie sind dem australischen Architekten Harry Seidler und der koreanischen Landschaftsarchitektin Jung Youngsun gewidmet. Die „Migration der Moderne“ genannte Ausstellung über Seidler ist die erste große Retrospektive des austro-australischen Modernisten. Sie zeichnet den Lebensweg des Architekten minutiös nach – von Wien über England und Kanada in die USA und Brasilien nach Sydney – und präsentiert in geradezu anrührender Weise die Entwicklung der Moderne als persönliche Reise über Kontinente hinweg. Die eleganten Formen von Seidlers Hochhäusern entwickelte er gemeinsam mit dem italienischen Ingenieur Pier Luigi Nervi.
Ausstellungen zu Harry Seidler und Jung Youngsun
Seidler brachte einen Touch von kosmopolitischer Architektur in die australischen Städte der Fünfzigerjahre. Die Schau in Venedig legt ihren Schwerpunkt aber auf die Künstler, mit denen Seidler zusammengearbeitet hat – darunter Alexander Calder, Frank Stella oder Sol LeWitt. Die Gestaltung der australischen Botschaft in Paris, unweit des Eiffelturms gelegen, ist von der Kunst von Josef Albers beeinflusst.

Sein Fachwissen im Stahlbetonbau kombinierte Seidler wirkungsvoll mit seinem bildhauerischen Gespür. Außerhalb von Australien hat Seidler in Acapulco/Mexiko, Hongkong und seiner Heimatstadt Wien Werke hinterlassen, deren Genese sich anhand von Briefen, Zeichnungen und Modellen in der Ausstellung in Venedig en détail nachvollziehen lässt.
Die zweite, nicht weniger sehenswerte Eröffnungsausstellung ist Jung Youngsun gewidmet. Es ist die erste große Ausstellung über Koreas führende Landschaftsarchitektin. Ihre Entwürfe, ein „auf der Erde geschriebenes Gedicht“, so Jung über ihr eigenes Werk, prägt auch die Freianlagen am Olympiastadion in Seoul und am Großflughafen Incheon. Berühmt geworden ist Jung für die Verwandlung eines welkenden Industrieareals in Seoul in einen Wasserpark.
Am Beispiel des Seonyudo Parks wird deutlich, dass es Jung bei ihrer Arbeit – ähnlich wie bei Chipperfields Umbau der Procuratie Vecchie selbst – um die Pflege des kulturellen Gedächtnisses geht. Für die Gärten des neuen Hauptgebäudes des Konzerns Amorepacific in Seoul hat Jung nur Pflanzen ausgewählt, die in der Kosmetikherstellung verwendet werden. Es fügt sich, dass das Gebäude von Chipperfield entworfen wurde.