Verzweifelt gut: Heinz Strunks „Zauberberg“-Adaption

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Gerahmte Tarantel, das ist eigentlich eine ziemlich passende Genrebezeichnung für den neuesten Strunk-Coup „Zauberberg 2“, ein Buch, das erst kitzelig in intime Regionen krabbelt (Kichern, Schämen, Ertapptfühlen) und dann höllisch zusticht (für Arachnophile: zubeißt). Wobei natürlich, wie Strunk weiß, das Hässliche an Burtons Geschenk gar nicht die Tarantel war, sondern der Rahmen, oder genauer: die Rahmung.

Verschnarchte Idee?

Man muss auch hier mit der Rahmung beginnen. Zum Hundertsten eines Jahrhundertbuchs eine Gegenwartsadaption desselben vorzulegen, beileibe nicht die erste (eine äußerlich ähnliche von Timon Karl Kaleyta ist kürzlich erst erschienen), das ist eine so verschnarchte Idee, dass sie Literaturagenten oder klammen Verlagen einfallen mag, aber doch nicht dem Autor von „Der goldene Handschuh“ oder „Es ist immer so schön mit dir“, verstörend unerwarteten Büchern, die Maßstäbe setzten in der Schuld-und-Scham-Zumutung.

Der an sich schon plumpe Titel „Zauberberg 2“ ist auch noch unsinnig, denn es handelt sich nicht um eine Fortsetzung, sondern um den ganzen Berg – als Hügel – noch einmal: vom Aufsuchen des Sanatoriums (natürlich bei Schnee) über das Hängenbleiben in dieser durchorganisierten, utopischen Gegenwelt (für Reiche) bis zum Entschwinden: „Lebewohl (. . .) des Lebens treuherziges Sorgenkind! Deine Geschichte ist aus.“

Die Kur als letzte Chance

Erstens aber behauptet Strunk, die Idee schon vor Jahren gehabt und von einem Jubiläum nichts geahnt zu haben, und zweitens hat er oft genug gezeigt, wie sehr ihn Thomas Manns Poetologie fasziniert, zuletzt erst in „Ein Sommer in Niendorf“, einer originellen „Tod in Venedig“-Anverwandlung. Außerdem gibt es doch auch einige Unterschiede. So liegt die in einem Schloss untergebrachte Nobel-Heilanstalt nicht in den weltpolitisch neutralen Schweizer Bergen, sondern nahe der polnischen Grenze am Stettiner Haff. Und Jonas Heidbrink ist kein Schiffsbauingenieur wie Hans Castorp, sondern ein Programmierer, dessen Start-up für viel Geld geschluckt wurde (irgendwas mit „Low Code“; es interessiert den Erzähler so wenig, dass es bloß angedeutet wird). Er kommt auch nicht als Besucher eines Verwandten, der sich erst dann in die Idee ergibt, selbst krank zu sein, sondern als depressiver Härtefall. Mit Mitte dreißig geplagt von Schlaflosigkeit, Lebenspanik, Hoffnungslosigkeit und Minderwertigkeitsgefühlen („ich bin nichts“) ist die Kur seine letzte Chance.

 „Zauberberg 2“. Roman.Heinz Strunk: „Zauberberg 2“. Roman.Rowohlt

Obwohl sich diese Exposition halbwegs mit der von Kaleytas „Heilung“ deckt, streben die Romane stark auseinander. Während Kaleyta auf viele teils surreale Wendungen der Handlung setzt (und sich dabei verstolpert), bleibt Strunk ganz bei seiner Poetologie der Innerlichkeit. Das ist psychologisch sogar noch radikaler als die Vorlage, wo es trotz der Zentralstellung der Hauptfigur noch ein Außen gibt: Beziehungen der anderen Figuren zueinander, für sich stehende Konzepte. Das kam nicht zuletzt in Manns olympischer Erzählperspektive zum Ausdruck. Hier ist alles auf die Figur Jonas Heidbrink bezogen, erzählt zwar in der dritten Person, aber extrem nah: Die Leser wissen, was er weiß; sie verwerfen, was er verwirft. Und das ist zu Beginn nahezu alles. Ganz allmählich erst öffnet sich der Patient den zunächst reflexhaft abgewehrten Behandlungsmethoden.

Zwischen Naphta und Settembrini

Die Suche nach Bezugnahmen auf die Vorlage darf man Literaturwissenschaftlern überlassen, auch wenn sich manche aufdrängen. So sitzt Heidbrink wie im „Zauberberg“ schnell im Restaurant des Sanatoriums. Klinikleiter Rodenberg ist weniger zynisch als Hofrat Behrens, trotzdem von ähnlich halbgottgleicher Stellung. „Die Therapeutin“, erlaubt sich Strunk einmal einen Ulk, „hört auf den unschlagbar nichtssagenden Namen Svenja Behrens.“ Heidbrinks intellektueller Sparringspartner Bernhard Zeissner (Heidbrink antwortet stets nur in Gedanken) ist ein mitteilungsfreudiger Ex-Galerist, der von ferne dem Humanisten Lodovico Settembrini ähnelt, zumindest, was seine gegenüber dem Geist zwar gering geschätzte, aber pompöse Gesundheit angeht.

Freilich redet er der Anziehungskraft des Todes das Wort, was eher an den totalitären Metaphysiker Leo Naph­ta erinnert. Ein zweiter Freund Heidbrinks, der vulgäre Klaus, eine hustende, furzende Ruine von Mensch (mit „Nachkriegshorrorbiographie“), erweist sich als wahrer Nihilist: „Es gibt keinen Gott.“ Auch er teils Naphta, teils Settembrini; Heidbrink immer der Belehrte. Der Alte lebt den Verfall vor: „In Klausens Alter schreitet die Zersetzung viel schneller voran, bald ist nur noch Scheiße von ihm übrig.“

Es klingt, als fräße er Geröll

Die Qualität des Romans muss sich diesseits aller typologischen Exegese erweisen. Und da überzeugt der vollendet pointierte Roman mit Bravour. Wie Heidbrink den durchlebten Klinikalltag mitlaufend sarkastisch kommentiert, all die Sitzungen in Musik-, Foto-, Gesprächs-, Schreib-, Tanz- und Bewegungstherapie, das ist umwerfend komisch. Wie eine Gruppe wohlsituierter Selbstzahler (823 Euro pro Tag) armselig mit orffschen Vorschulinstrumenten rasselt und klackert, um wieder ins Ich zu finden, das kann niemand so herrlich böse beschreiben wie Heinz Strunk.

Denunziert werden die Therapien dennoch nicht. Selbst- und Fremdverachtung befeuern sich vielmehr im Protagonisten gegenseitig und münden in eine oft treffende, freilich nur gedankliche Verbalattacke gegen alle und jeden, etwa jenen „Birnenfresser“, der sich „krachend, berstend, knackend“ über ein Obst hermacht, „die abstoßendste Vorstellung, der Heidbrink jemals beigewohnt hat“: „Es klingt, als fräße er Geröll, ein Bagger, der sich durch einen Steinbruch beißt. Wo hat der die Birne überhaupt her, Obst gibt es doch nur beim Frühstück? Wahrscheinlich reingeschmuggelt, das Schwein.“

Zurück in die verkommene Welt

Der Clou ist, dass der Autor gerade mit dem berserkerhaften Humor der unbarmherzigen Komik Thomas Manns im „Zauberberg“ nahe kommt. Noch größere Kunst ist es, wie diese Ablehnung sich selbst als Schutzhaltung zu erkennen gibt, wie hinter der Komik die wahre Dimension der Verzweiflung des Helden aufscheint. Dass die scheinbare Gesundung des Helden nichts als Entwöhnung von der Welt ist, merkt man erst an kleinen Details und schließlich an der gänzlichen Dezentrierung, als die hereinbrechende ökonomische Realität (das Geld geht aus, nicht Heidbrink, sondern der Klinik) zur Vertreibung aus dem Quasiparadies führt. Aus dem krachlustigen Limbus muss man also zurück in die verkommene Welt, ins Spiegelkabinett der eigenen Nichtigkeit – oder gleich darüber hinaus nach oben oder unten. Immer düsterer wird dieses Buch Seite um Seite.

„Echte Patienten sind viel deprimierender als Film- oder TV-Patienten“, heißt es an einer Stelle. Die entscheidende Vokabel lautet „echt“, denn Strunks Figuren sind in jeder Sekunde authentisch, gegenwärtig und bis ins Eklige körperlich. Heidbrink, der Verlorene, ist keine Kopfgeburt, kein Ecce-homo-Andachtsbild, sondern ein leidender Zeitgenosse aus Fleisch und Gemüse.

Draußen nur Einsamkeit

Die Tarantel, das ist einfach das Leben selbst, will sagen: der Tod mit seinem altbekannten Stachel. Die Verzweiflung macht sich nicht größer, als sie ist, sie gerät bloß – schniefend und komisch – in den Blick. „Dort draußen ist nur Einsamkeit und die tödliche Kälte des Weltraums“: Wenn dem kein „drinnen“ mehr entgegengesetzt werden kann – auch beide Freunde gehen verloren –, bleibt nur das Erfrieren.

Dann, leider, kehrt der Rahmen zurück. Das vorletzte Kapitel, „Kirgisenträume“, Heidbrinks Walpurgisnachtstraum, stellt die Authentizität kurz infrage, handelt es sich doch um ein fast gänzlich aus „Zauberberg“-Zitaten zusammenmontiertes. Wieso bloß? Soll das zeigen, dass auch der Zauberer so deftig komisch und radikal im Seelenzugriff sein konnte wie Strunk? Brauchte es das? Selbst die berühmten grauen Weiber geistern durch den Traum, fressen das unschuldige Kind: Manns Allegorie auf die amoralische Natur. Die wohl immer noch amoralisch ist. Die Collage wirkt wie eine Fingerübung aus dem Schreibseminar. Inhaltlich läuft das auf keine tiefere Erkenntnis zu. So sind die den Schwafeleien Zeissens zugewiesenen deftig philosophischen, untergangsschwangeren Sätze mal Hofrat Behrens’ Bemerkungen entnommen, dann wieder unterschiedslos den Reden der Widersacher Settembrini und Naph­ta: ein wilder Eklektizismus. Auch stilistisch bleibt der Bruch spürbar.

Zum Glück folgt dann noch das starke, authentische Finale am Stettiner Haff. Wo Hans Castorp in den Untergang Europas entlassen wird, entscheidet sich Heidbrink für den Untergang in Europa. Der Weg von der misanthropischen Einsamkeit über die Illusion von Gemeinschaft in die ewige Einsamkeit ist in diesem Buch so penibel wie sensibel nachgezeichnet, dass es fast eine Gefahr darstellt. Einmal muss der Abfluss in Heidbrinks Zimmer gereinigt werden. Der Fachmann nutzt ein Zaubermittel: „Inferno heißt das Zeug.“ Ein voller Erfolg: „Ätzt alles Organische radikal weg.“ Strunks Buch stellt die dunkle Frage: Aber was, wenn der Mensch nicht das Rohr, sondern der Pfropf ist?

Heinz Strunk: „Zauberberg 2“. Roman. Rowohlt Verlag, Hamburg 2024. 288 S., geb., 25,– €.

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