Im weiträumigen Gebäudekomplex des New National Theatre Tokyo kann man sich schon einmal verlaufen. Mit seinen drei Theatersälen samt großzügig bemessenen Foyers, Probenräumen, einer Ausbildungsstätte für den Nachwuchs, einem audiovisuellen Informationszentrum mit Bibliothek und zahlreichen Restaurants ist das 1997 eröffnete Dreispartenhaus ausschließlich auf die zeitgenössischen Künste ausgerichtet und laut Eigenwerbung die bedeutendste Einrichtung seiner Art in ganz Ostasien.
Der „Opera Palace“, der größte Saal mit 1800 Plätzen und einer exzellenten Akustik, war nun Schauplatz der Uraufführung von „Natasha“, der jüngsten Oper von Toshio Hosokawa. Mit der Komposition hatte er bereits 2019 begonnen und die Arbeit erst nach einer langen Covid-Pause wieder aufgenommen, wobei ihm Kazushi Ono, der Dirigent der Uraufführung, dem das Werk ein Herzensanliegen war, beratend zur Seite stand. Die Produktion durch das New National Theatre erfolgte nun im Hinblick auf Hosokawas siebzigsten Geburtstag im kommenden Oktober.
Wie in vielen Werken Hosokawas, der in Deutschland bei Isang Yun und Klaus Huber studiert hat, kommen auch in „Natasha“ europäisches und japanisches Denken zu einer fruchtbaren Synthese. Im Gebrauch der Mittel des europäischen Symphonieorchesters, das in einigen Szenen durch Saxophon, E-Gitarre sowie durch Stimmen und Geräusche aus den Saallautsprechern erweitert wird, schimmert ein japanisches Verständnis von Klang und Zeit durch. Die Natur mit ihren Geräuschen und vor allem das Meer sind für Hosokawa Verkörperungen des zeitlos Seienden, von dem sich die Zeitlichkeit der menschlichen Aktivitäten abhebt; zur Erläuterung verweist er gern auf die Haikus des Dichters Bashō. In der 2018 in Hamburg uraufgeführten Oper „Stilles Meer“ spielt das Meer sogar eine Hauptrolle als die vom Menschen verletzte Natur, die sich mit einem Tsunami rächt. Auch in „Natasha“ wird es gleich zu Beginn prominent beschworen. Aus seinem geheimnisvollen Rauschen entwickeln sich langsam die musikalischen Gestalten und die an diesseitigen Grausamkeiten reiche Handlung.
Ost und West durchdringen sich auch im Libretto der in Berlin lebenden japanischen Autorin Yoko Tawada; sie schreibt in japanischer und deutscher Sprache und siedelt ihre Erzählungen oft im Spannungsfeld der beiden Kulturen an. Mit ihrem Libretto hat sie jetzt eine gegenwartsbezogene Paraphrase von Dantes „Inferno“ geschaffen. Hauptfiguren sind Natasha und Arato, zwei Bootsflüchtlinge, die sich am Meeresufer begegnet sind. Er singt in japanischer Sprache, sie auf Deutsch und, mit aktuellem Bezug, auf Ukrainisch; auch andere Idiome klingen gelegentlich an.

Die beiden werden hinunter in die sieben Höllenkreise unserer dystopischen Gegenwart geführt – nicht von Vergil, sondern von „Mephistos Enkel“, einem modernen Zyniker und Nihilisten, der gern auch mal seinen Ahn aus Goethes „Faust“ zitiert. Vor den Bedrohungen und Verführungen bei dieser Reise durch die Abgründe der Spezies Mensch bewahrt sie nur ihre langsam erwachende Liebe. Die Altistin Hiroka Yamashita in der Hosenrolle des Arato, Ilse Eerens (Sopran) als Natasha und der Bariton Christian Miedl als Mephistos Enkel sind die herausragenden Protagonisten in diesem Dreipersonenstück, das außerdem einige kleine Nebenrollen, den fabelhaften Chor des New National Theatre und eine Gruppe akrobatischer Tänzer beschäftigt.
Und das sind die sieben Stationen des Horrortrips: die Hölle der entlaubten Wälder, die knallbunte Plastikhölle des Vergnügens, die Fluthölle, die stupide Businesshölle, die Sumpfhölle der politischen Parolen und Agitatoren, die Feuerhölle der Umweltzerstörung und als letzte Konsequenz die Hölle der absoluten Dürre.
E-Gitarre und Saxophon sind dabei
In der Musik zu diesem Weltuntergangsmenetekel präsentiert sich Hosokawa – ein Novum für ihn – als genuiner Polystilist. Die Vergnügungshölle charakterisiert er durch grelle, teilweise improvisierte Klänge von E-Gitarre und Saxophon, die roboterhaft agierenden Businessmenschen mit monotonen Minimalismus-Mustern. Über weite Strecken dominiert jedoch ein vorwiegend mit Kurzmotiven, Heterophonien und Akkordschichtungen gearbeiteter katastrophischer Tonfall, harmonisch gewürzt mit dem allgegenwärtigen Tritonus, dem „diabolus in musica“.
Die dissonante Spannung löst sich in den letzten beiden Szenen auf. Angekommen am tiefsten Punkt der Hölle und erschöpft von den erlebten Schrecken, erfährt das Paar die rettende Kraft der Liebe. Den Umschlagpunkt markiert ein Duett in reinem Moll. Die Melodie, im Kern eine absteigende Viertonfolge, klingt mit ihrer zeichenhaften Schlichtheit und ihrem feierlichen Ernst fast wie von Händel erfunden. Auch mit den permanenten Tritonusklängen ist jetzt endlich Schluss, und das Unzulängliche, hier wird’s Ereignis: Zu den langsam erlöschenden tonalen Klängen entschwebt das Paar in den Bühnenhimmel und vielleicht in jene andere Wirklichkeit, für die zu Beginn der Oper das Meer als klingende Metapher stand.
Die Uraufführung fand beim japanischen Publikum großen Zuspruch, den stärksten Applaus erhielt der Komponist. Neben der packenden musikalischen Realisierung durch Solisten, Chor und das Tokyo Philharmonic Orchestra unter Kazushi Ono war es zweifellos das suggestive Bühnenbild von Daniel Unger und Christian Räth – Letzterer war auch für die Regie verantwortlich –, das das Publikum in Bann zog. Abstrakt gehaltene Videos von Clemens Walter, die aus drei Richtungen auf gestaffelte Gazevorhänge und bewegliche Seitensoffitten projiziert wurden, erzeugten die Illusion von großen Räumen in düsteren Grautönen, die sich sekundenschnell verändern konnten. Das erlaubte fließende Szenenübergänge und verschaffte der Regie den nötigen Raum für die vielen Massenszenen. In den handlungsarmen Momenten dienten die visuellen Effekte zusammen mit den Bewegungen der Chormassen als effektvolle Zugabe. In der Vergnügungshölle bildeten die phantastischen Kostüme von Mattie Ullrich einen erfrischenden Kontrast zur bedrückenden Düsternis, das Schlussbild war in mystisches Licht (Rick Fisher) getaucht.
Auch fürs Auge gab die Inszenierung somit einiges her, Musik und Inszenierung verschmolzen zu einer Einheit. Und was nicht zu unterschätzen ist: Man erlebte den seltenen Fall eines zeitgenössischen Bühnenwerks, das in keinem Moment Langeweile aufkommen ließ.