Vierhundert bombenbestückte Drohnen, und Dutzende von ihnen treffen ihr Ziel. In der Industriestadt Krywy Rih etwa, wo die Stromversorgung komplett zusammenbricht und zwei Industrieunternehmen in Flammen aufgehen. In Charkiw, wo dem Militärgouverneur zufolge innerhalb von 20 Minuten 17 Explosionen zu hören sind. Oder im westukrainischen Winnyzja, wo nach Angaben der dortigen Vize-Militärgouverneurin ebenfalls Industrieanlagen in Brand geraten. Die Ukraine erlebt in der Nacht zum 16. Juli wieder eine Nacht des Terrors durch russische Luftangriffe.
Und nicht nur die Luftangriffe setzten die Ukraine unter Druck: Daten des eng mit dem ukrainischen Militär verbundenen Infodienstes Deep State zufolge hat Russland in den vergangenen drei Monaten weitere 1415 Quadratkilometer ukrainischen Territoriums besetzt.
Die von US-Präsident Donald Trump schon in der vergangenen Woche angedeutete und am Montag verkündete Neuorientierung seiner Russland-Politik hat die Ukrainer enttäuscht. Vor allem die Sache mit dem Ultimatium lässt sie ratlos zurück. Trump will Russland 50 Tage Zeit geben, ehe er Sanktionen umsetzen würde. Das wertete etwa der ukrainische Parlamentarier Oleksandr Mereschko, Vorsitzender des Außenpolitischen Ausschusses, nicht als Ultimatum, sondern als grünes Licht für weitere russische Angriffe. „Diese Frist bietet Putin die Gelegenheit, den Krieg im Sommer noch zu intensivieren“, so Mereschko im Kyiv Independent.
Ebendies bestätigen auch die täglichen Lageberichte des Instituts für Kriegsstudien (ISW) in Washington – und Berichte aus Moskau. Dort taten hohe Beamte wie Vizeaußenminister Sergej Rjabkow oder Präsidentensprecher Dmitrij Peskow das Trump-Ultimatum ab. Ex-Präsident Dmitrij Medwedjew sagte gar: „Das interessiert Russland nicht.“ Drei Kreml-Quellen erklärten der Nachrichtenagentur Reuters, dass Präsident Wladimir Putin den Krieg unvermindert heftig fortführen werde.
Meinungsforscher räumen ein, dass der Pessimismus zunimmt
Die von US-Präsident Trump angekündigten möglichen Sanktionen – etwa höhere Zölle auf den Handel mit Russland oder ein 100-Prozent-Strafzoll für die russisches Öl kaufenden Länder Indien und China – fallen nicht nur weit hinter deutlich radikaleren Vorschlägen im US-Senat zurück, sondern werden in Moskau auch als wenig glaubwürdig eingeschätzt. Putin werte Trumps Frist vom Montag lediglich als Manöver, bei dem Trump vermeide, ihn zu sehr zu brüskieren, so eine Kreml-Quelle zu Reuters.
In der Ukraine war der Pessimismus zumindest vor der jüngsten Kehrtwende Trumps seit April stark gewachsen. Im Oktober 2022, gut ein halbes Jahr nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine, glaubten noch 88 Prozent vom Kiewer Institut für Soziologie befragte Ukrainer, in zehn Jahren werde die Ukraine ein blühendes Land in der EU sein. Nur fünf Prozent prognostizierten, dass ihr Land ein Jahrzehnt später mit einer ruinierten Wirtschaft dastehen und unter hoher Abwanderung seiner Bürger leiden werde.
Im Mai und Juni 2025 stellten die Meinungsforscher noch einmal dieselben Fragen. Das Ergebnis hat sich massiv verschoben. Inzwischen glauben nur noch 43 Prozent an eine EU-Mitgliedschaft. 47 Prozent sagen den Ruin ihres Landes voraus. „Der sich abschwächende Glaube an eine glückliche Zukunft des Landes ist zweifelsohne ein beunruhigender Trend, da der gegenwärtige Krieg und die damit verbundenen Verluste als Investment darauf wahrgenommen werden, dass die Ukraine und die Ukrainer endlich normal leben werden“, kommentierte KIS-Direktor Anton Hruschezkyj am 9. Juli bei der Vorstellung der Umfrage.
„Je weniger Ukrainer glauben, dass die Ukraine wirklich auf dem Weg ist, ein blühendes EU-Mitgliedsstaat zu werden, desto schwächer wird unser Widerstand und unsere Fähigkeit, Ressourcen zu mobilisieren, um dem Feind zu widerstehen.“ Die Umfrage zeigt indes auch, dass die Mehrheit der Ukraine weder bereit ist, zu kapitulieren, noch auf besetzte Territorien formell zu verzichten.
Trotz der fortgesetzten Angriffe ist die Lage für die Ukraine tatsächlich nicht aussichtslos. Die russischen Verluste sind unverändert hoch, die Front ist an vielen Stellen eingefroren, weil vorrückende Truppen sofort per Drohnen angegriffen werden. Mittlerweile produziert die Ukraine vier Millionen Drohnen im Jahr.
US-Präsident Trump zufolge werden die ersten Patriot-Abwehrraketen bereits von Deutschland an die Ukraine geliefert, fraglos ein positives Signal. Dem Infodienst Axios zufolge, der sich auf eine Regierungsquelle berief, kauften die Europäer für die Ukraine in Washington zunächst Waffen für zehn Milliarden Dollar. Anderen Berichten zufolge will Trump selbst allerdings nicht alle Waffen liefern, die der US-Kongress unter seinem Vorgänger Joe Biden im Frühjahr 2024 noch genehmigt hatte.
Unterdessen fragen sich ukrainische Militärplaner, welche Waffen sie neben den Patriot-Abwehrraketen aus US-Produktion möglicherweise noch bekommen, etwas um Ziele tief in Russland anzugreifen. Die Frage stellt sich offenbar umso dringlicher, als die Bundesregierung in Berlin die Lieferung von Taurus-Raketen aus deutschen Beständen angeblich endgültig abgesagt hat. Dabei geht es mehreren Berichten zufolge vor allem um zwei Systeme: bis zu 500 Kilometer reichende PrSM-Raketen und bis über 900 Kilometer reichende AGM-158-Jassm-Geschosse, die eine Sprenglast von 450 Kilo tragen und von den an die Ukraine gelieferten F-16-Jagdflugzeugen auf Ziele tief in Russland abgeschossen werden könnten.
Die Europäer könnten Russlands Öleinnahmen effektiv verringern
Jack Watling vom Londoner Militärforschungsinstitut RUSI sieht eine weitere Möglichkeit, Russland zu schwächen, sofern es der Ukraine gelinge, der russischen Sommeroffensive standzuhalten. Denn kurz- und mittelfristig seien die Europäer schon in der Lage, die gewaltigen Materialverluste auch der Ukraine zu ersetzen, vor allem wenn sie in den USA militärische Spitzentechnik kaufen könnten. Zudem werde Russland spätestens Ende 2025 seine noch aus Sowjetzeiten stammenden Vorräte an Kriegsmaterial aufgebraucht haben. Der Fachdienst Oryx schätzt die Verluste auf mittlerweile 22 250 zerstörte oder aufgegebene Panzer und Flugzeuge, Raketenwerfer, Kommandostationen und anderes Militärgerät. „Wenn die Ukraine noch ein Jahr standhalten kann und fortfährt, die russischen Kräfte zu dezimieren, ist Russland womöglich nicht mehr in der Lage, sich so leicht zu erholen“, so Watling.
Zudem könnten die Europäer effektiv die Öleinnahmen verringern, mit deren Hilfe Russland den Krieg finanziert. Mehr als 60 Prozent des von Moskau verkauften Öls werde per Schiff durch die Ostsee transportiert – und durch dänische Gewässer. Schiffe, die dieses Öl transportierten, müssten umfassend sanktioniert werden, ihnen müsse Registrierung und Flaggen der Registrierungsländer entzogen werden. „Dann könnte Dänemark ihnen verbieten, seine Gewässer zu durchqueren“, so Watling. Zwar könne Russland auch über andere Wege Öl exportieren, doch seien die Möglichkeiten begrenzt, und Moskau werde „einen bedeutenden Abfall seiner Exporte“ sehen.