Wenn Deutschland sich schon seit langem im Stillstand befindet oder gar in der Krise, im Abschwung – eine Meinung, die ja die meisten informierten Menschen zu teilen scheinen –, wenn aber dasselbe Land sich seit noch viel längerer Zeit ein halbes Dutzend gebührenfinanzierte Talkshows leistet, in denen häufig über eben diesen Stillstand, die Krise und den Abschwung geredet wird, und zwar nicht nur von sogenannten Experten, sondern immer häufiger auch von Leuten aus der Praxis oder „Menschen aus dem Volk“, die auch unter dem Namen „Betroffene“ firmieren – dann folgt daraus zwingend, dass Talkshows nicht zur Behebung der Probleme dieses Landes beitragen.
Was aber tun sie dann? Sie treten die Probleme vielleicht ein bisschen breiter, als sie vorher waren. Das wäre eine Antwort. Sie bereden sie, ohne Lösungen anzubieten, weil es keine leichten Lösungen gibt. Das wäre eine weitere. Sie wollen uns unterhalten und täuschen die Ernsthaftigkeit nur vor, weil Fernsehzuschauer ihr Leben als sinnvoller empfinden, wenn sie sich mit politischen Themen beschäftigen statt mit Quiz oder Dschungelcamp. Das wäre eine dritte Antwort. Vielleicht wollen sie uns auch nur ablenken, trösten oder für dumm verkaufen, wer weiß? Die Wege des Fernsehens sind unerforschlich. Wenn das Thema der Talkshow dann aber so formuliert wird, dass man nur zwischen zwei gleichermaßen debilen Alternativen wählen kann, dann unterschreitet die Talkshow freiwillig die bescheidenen Möglichkeiten, die sie theoretisch hat.
Was sind schon ein paar Millionen Euro?
Der Titel „Sozialstaat zu teuer: Bullshit oder bittere Wahrheit?“ enthält redaktionell konstruierte Scheinalternativen, die noch nicht einmal dazu taugen, das Gespräch in Gang zu bringen. Denn jeder weiß, dass der Sozialstaat zu teuer ist und wir kommenden Generationen unglaubliche finanzielle Lasten aufbürden. Jeder weiß es. Nur dass wir, wenn unsere Enkel und Urenkel sich darüber in künftigen Talkshows beklagen könnten, wahrscheinlich nicht mehr vor dem Fernseher sitzen. Und wenn doch, dann womöglich in einem Pflegeheim, das diese Enkel und Urenkel bezahlen müssen.
Weil das Thema in der Sendung so holzschnitthaft daherkam, waren auch die Reize, auf die der Moderator Louis Klamroth ansprang, von der schlichtesten Art. Es ging ihm nämlich ausschließlich darum, den Chef des Bundeskanzleramts Thorsten Frei (CDU) zu Aussagen zu provozieren, die irgendwie kalt, herzlos und nach Raubtierkapitalismus geklungen hätten. Also „unsozial“. Und „rechts“. Klamroth hatte vor, seinem Gast – ganz altmodisch – die Maske vom Gesicht zu reißen.
Das wäre erträglicher gewesen, hätte sich der Moderator beim Dauerbrenner Erbschaftssteuer nicht auf so erbärmlichem Frageniveau bewegt. Zum Beispiel: „Glauben Sie, dass es jemandem, der 29 Millionen steuerfrei vererbt, schlechter geht, wenn man ihm ein paar Millionen davon wegnimmt?“ Da die Frage ihn umzutreiben schien, kam er später noch einmal darauf zurück, formulierte sie nur deutlich schlechter: „Warum ist das so schwierig, wenn doch die Umfragen zeigen, eine Mehrheit der Bevölkerung – sogar eine Mehrheit der Unionsanhänger – ist dafür, bei denen, die viel haben, noch ein bisschen mehr zu nehmen?“
Unsere Enkel und Urenkel werden sich bedanken
Wegnehmen, meinte Klamroth damit. „Den Reichen“. Wenn schon Umfragen unter Unionsanhängern es fordern! Was sich in Umfragen aber so leicht wünscht, überlegt man sich an der Wahlurne dreimal. Statt angesichts dieser Naivität schreiend aus dem Studio zu rennen, war Thorsten Frei so höflich, Klamroth sein Zeug reden zu lassen. War er dann dran, wurde er vom Moderator unterbrochen, sobald er differenzierter antworten wollte, als es dem Moderator genehm war – ein Schicksal, das der Unionspolitiker mit anderen Gästen teilte.
Dass im Studio zu keinem Zeitpunkt die Fetzen flogen, kann man unter diesen Umständen begrüßen. Gegen Ende wurde es sogar fast kuschelig. Vielleicht lag es an Klamroths Regie, dass SPD-Fraktionschef Matthias Miersch nicht sonderlich viel beizutragen hatte. Munterer sprachen Ricarda Lang, Bundestagsabgeordnete der Grünen, die sehr textsicher Taylor Swift zitierte, und die ehemalige Linken-Vorsitzende Katja Kipping, seit einem Jahr Geschäftsführerin des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbands. Von Kipping kam auch die eindringliche Mahnung, beim Reden über den Sozialstaat die oft von Scham geprägte Wirklichkeit armer Menschen nicht zu vergessen.
Die meisten Talkshows drehen sich um Ansprüche
Bei den vorhersehbaren parteipolitischen Argumentationslinien tat es gut, dass zwei Stimmen von außen dazukamen. Stella Pazzi, die junge Geschäftsführerin eines Software-Unternehmens aus Saarbrücken, sprach von der Enttäuschung des Mittelstands über die zäh anlaufenden Reformen der Merz-Regierung. Da müsse mehr und Grundlegendes geschehen. Wer ihr genau zuhörte, konnte in ihrem leidenschaftlichen Appell an den leistungsorientierten Teil der Republik auch Ungeduld darüber wahrnehmen, dass sich die meisten deutschen Debatten um Ansprüche drehen, nicht um Aufbruchsbereitschaft und Eigeninitiative. Stella Pazzi dagegen findet, wir müssten die Rahmenbedingungen verbessern, damit Unternehmen stark und leistungsfähig sind. Das andere folge von selbst: „Menschen in Arbeit sind der beste Schutz gegen Armut.“
Auch Marcus Weichert, der Geschäftsführer des Jobcenters Dortmund, hatte es nicht so mit Sozialromantik. Wo sich Geld einsparen lasse? Erst einmal bei der fürchterlichen Bürokratie und dem Verordnungsdschungel, denen die Jobcenter ausgesetzt seien – der Blödsinn verschlinge die Hälfte der Arbeitszeit. Und nachdem er sich das Gekabbel der Politiker über Bürgergeld, „Vermittlungsvorrang“ und „Totalverweigerer“ eine Weile angehört hatte, konnte er dazu etwas aus der Praxis beitragen: Die offenen Jobs erforderten oft so hohe Qualifikationen, dass sie für 95 Prozent seiner Kunden gar nicht in Betracht kämen. Und es gebe leider auch Menschen, die gar nicht arbeiten wollten. Viele seien es nicht, doch sie brächten andere in Misskredit. Deswegen müsse man gegen sie „mit aller Härte vorgehen“.
Und dann wunderte Weichert sich, dass Schwarzfahren mittlerweile im deutschen Strafgesetzbuch steht, der Betrug an Sozialleistungen aber ungeahndet bleibe. „Da stimmt die Relation einfach nicht.“ Man könnte es auch anders sagen: Es gibt Themen, an die traut sich das deutsche Volk nicht heran. Das merkt man aber erst so richtig, wenn bei „Hart aber fair“ schon der Abspann läuft.