In Russland verstand man sehr genau, welche Botschaft Putin vergangene Woche an die Ukraine übermittelte, als er seinen Ex-Kulturminister und Ghostwriter Wladimir Medinski als Verhandlungsführer nach Istanbul entsandte. Die Tatsache, dass Putin diese drittrangige Delegation schicke, schrieb eine St. Petersburger Onlinezeitung, lasse nur eine einzige Botschaft zu, die da laute: „Selenski, ergib dich, nur eine bedingungslose Kapitulation wird dich noch retten.“
Und wie es sich für einen Geschichtsrevisionisten vom Kaliber Wladimir Medinskis gehört, hatte er auch ein historisches Argument im Gepäck, das ebenfalls eine klare Nachricht überbrachte: „30 Tage, 60 Tage, egal – zuerst Waffenruhe und dann Verhandlungen über Frieden, das sagen Leute, die keine Ahnung von Geschichte haben. In der Regel, wie Napoleon sagte, finden Krieg und Verhandungen immer gleichzeitig statt.“ Keine Waffenruhe also. Das hat Russland nach den gescheiterten Istanbuler Verhandlungen auch bereits gezeigt, indem es am Sonntag den größten Drohnenangriff auf Kiew seit Kriegsbeginn startete – und gleichzeitig erklärte, man sei zu einer Waffenruhe bereit.
Historische Argumente im Talk-Studio
Caren Miosga eröffnete ihre Sendung zum Thema „Putin versetzt Selenskyj – und Europa schaut zu?“ mit einem Einspieler, in dem Medinksi jene Napoleon-Sätze zum Besten gab. Sie bildeten fortan so etwas wie das Unbewusste der Sendung, griff doch der Autor Heribert Prantl im Laufe der 60 Minuten gleich zu mehreren historischen Argumenten.

Prantl vertrat an diesem Abend die Minderheitenposition. Neben ihm waren der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, die Sicherheitspolitikexpertin Claudia Major und der ehemalige Botschafter in Russland (2014–2019) Rüdiger von Fritsch geladen – alle drei einig darin, dass Europa und die Ukraine ein anderes Verständnis von Diplomatie haben als das gegenwärtige Russland.
In Putins Logik seien Verhandlungen kein Mittel zur Problemlösung, sondern lediglich eines von mehreren Instrumenten auf dem Weg zum Sieg, so Major. Im ersten direkten Gespräch mit der Ukraine seit drei Jahren habe er vergangene Woche erneut seine Maximalforderungen erhöht. Zugleich verlaufe die Normalisierung der Beziehungen zu den USA derzeit in seinem Sinne. Wenig Anlass für Putin also, Kompromisse einzugehen.
Wer kann in Putins Kopf schauen?
Das ging Heribert Prantl zu weit in der Interpretation. Er fragte, ob die Anwesenden denn in Putins Kopf hineinschauen könnten und man denn tatsächlich, wie stets behauptet, von russischen Machterweiterungsfantasien ausgehen müsse. Eine Frage, die nicht weit führte und den Fragenden direkt in den Dreißigjährigen Krieg katapultierte: Damals hätten die Friedensverhandlungen neun Jahre gedauert, man solle nicht direkt aufgeben. Es sei sinnlos, die Pistole auf den Tisch zu legen, wenn man ernsthaft verhandeln wolle. Prantls Vorschlag dagegen: Verhandlungen erleichtern, Sanktionen als Verhandlungsmasse nutzen und Putin signalisieren, dass man bereit ist, diese zu lockern, sobald Fortschritte erzielt werden. Miosga lenkte ein, Trump habe dergleichen doch bereits getan und sehr viele Zugeständnisse an Russland gemacht.

Claudia Major wies für ihre Verhältnisse ungeduldig darauf hin, dass es seit drei Jahren regelmäßig sowohl Verhandlungsangebote (afrikanische, päpstliche, chinesische Initiativen) als auch Morgengaben gegeben habe (Anerkennung der besetzten Gebiete, keine NATO-Mitgliedschaft für die Ukraine). Man müsse die veränderten Prämissen begreifen: Russland habe klar imperiale Ziele. Wie war das gleich mit Napoleon?
Nein, man müsse dennoch die Hand ausstrecken, forderte Prantl noch einmal. Rüdiger von Fritsch erinnerte an die Gesprächsangebote im Anschluss an die Krim-Annexion – man habe ja gesehen, wohin sie geführt hätten.
Der Papst soll es richten
Vielleicht liege es am Mediator, ein stärkerer müsse her, so Prantls Idee. Wer könnte das sein? Kein geringerer als „der heilige Vater“, so Prantl weiter. Der sei nicht so erratisch wie Trump, dem er übrigens keine fünf Prozent Verteidigungsausgaben vor die Füße legen würde. Ungeduld und Verdruss stiegen, Russland habe seine Ziele sehr klar dargelegt, darin waren sich alle anderen am Tisch einig. „Irgendwann muss man vielleicht mal anerkennen, dass wenn Russland nein sagt, es möglicherweise auch nein meint“, so Major. „Sie vermitteln mir den Eindruck, wir haben es einfach nicht doll genug probiert.“
Wo denn die Anhaltspunkte dafür seien, dass Russland ein Interesse habe, den Krieg anders als kriegerisch zu beenden, fragte sie Prantl. In Istanbul hätten die Russen nämlich etwas ganz anderes gesagt: Dass man noch sehr lange Krieg führen könne und dass aus den bisher vier annektierten Gebieten auch fünf oder acht werden könnten – wenn der Status quo nicht anerkannt werde.
Auch Trump macht Sorgen
Trump glaubt noch immer, er sei der einzige, der die Sache geraderücken kann. Ein Telefonat mit Putin steht an, und das ist nicht unbedingt eine gute Nachricht. Zur Sorge, die alle teilten, dass da über den Kopf der Ukraine hinweg entschieden werden könnte, kommt eine weitere: Man wisse nicht, wie lange Trump noch an der Seite Europas stehe, so Major – ein russisch-amerikanischer Beziehungsreset unter Ausklammerung des Ukraine-Dossiers scheine möglich. Trump und Putin teilten schließlich auch ein ähnliches Großmachtstreben.

Letzteres gefiel auch Heribert Prantl, und es fiel ihm seine Huizinga-Lektüre ein. Bei dem großen niederländischen Kulturhistoriker gibt es das Fürstenmodell – das sei eine weitere Möglichkeit einen Krieg zu beenden, auf die es wohl hinauslaufe. Während Miosga schon ungläubig und die anderen etwas angespannt schauten, führte Prantl inspiriert aus: Was hier passiere, erinnere ihn doch sehr daran, was Huizinga sage: „Das Fürstenduell ist ein Mittel, Kriege zu beenden, das hat’s wohl nie gegeben, so steht’s im ‚Homo Ludens‘, aber es ist immer wieder eine faszinierende und für uns etwas lächerliche Möglichkeit. Die Art und Weise, wie die beiden Potentaten hier miteinander umgehen, erinnert mich an so ein Fürstenduell.“
Ideen aus dem 19. Jahrhundert
Nach dem Dreißigjährigen Krieg nun also das Fürstenmodell und ein weiterer Vergleich, der bei den anderen zurecht für Nervosität sorgte: Hier werde freundlich ein Modell präsentiert, das zurück ins 19. Jahrhundert führe; Donald Trump sei Putin bereits auf den Leim gegangen, indem er sich in diese Großmachtlogik hineindenke – zu Lasten anderer, so von Fritsch. Prantl entgegnete, auch das Wettrüsten sei eine Sache des 19. Jahrhunderts. Selten verirrten sich so viele Jahrhunderte in eine einzige Talkshow wie an diesem Abend. Da dürften den Historikern an den Bildschirmen reihenweise die Monokel aus dem Gesicht gefallen sein.
Aber es gab auch Hoffnung am Tisch: Die Sanktionen zeigten Wirkung, die Inflation in Russland liege bei 10 bis 12 Prozent, im US-Kongress gebe es eine Zweidrittelmehrheit für weitere Sanktionen, und überhaupt sei nun Bewegung in die Sache gekommen. Putin werde sich früher oder später die Frage stellen müssen, welchen Preis der Krieg ihn tatsächlich koste. Auch wenn derzeit andere Töne angeschlagen werden, wie der ARD-Studioleiter in einer Liveschalte aus Kiew berichtete: Die russische Delegation habe in Istanbul der ukrainischen mit mehr toten Angehörigen gedroht.
Zum Schluss noch ein Themenwechsel
Gegen Ende der Sitzung ging es um einen anderen Kriegsschauplatz: In Gaza herrscht eine Hungersnot, und die israelische Regierung hat angekündigt, Gaza dauerhaft zu besetzen. Ob Macrons Vorwurf der Schande zu scharf gewesen sei, wollte Misoga von Röttgen wissen. Angesichts der erschütternden Lage in Gaza sei es erforderlich, aus einer Haltung der Freundschaft heraus kritische Fragen an die Regierung Netanjahu zu stellen. Ob Röttgens Behutsamkeit unter psychologische Friedensführung falle, wollte Miosga von Prantl wissen. Markante Kritik an Netanjahu sei Pflicht. Netanjahu verhandele nicht, er vernichte Leben, auch das der israelischen Geiseln, entgegnete Prantl.
Recht vorhersehbar verkanteten Röttgen und Prantl sich zunehmend. Röttgen war besorgt, weil die USA zum ersten Mal über Israels Kopf hinweg Verhandlungen mit Iran und anderen Ländern im Nahen Osten führen. Prantl hingegen forderte schärfere Töne gegenüber Netanjahu, so wie man das ja bei Putin zurecht tue. Röttgen konterte: „Ich finde die Umkehrung ihrer Position in beiden Fällen interessant.“ Auch wenn in Deutschland gerne und viel über Israel gesprochen wird – den Gaza-Krieg konnte man in den verbliebenen fünfzehn Minuten der Sendung nicht lösen.