Tobias Rempe, Jahrgang 1971, ist neuer Intendant des Konzerthauses am Berliner Gendarmenmarkt. Zuvor war er Geiger und Manager beim Ensemble Resonanz in Hamburg. Gestern hat er mit der Dirigentin Joana Mallwitz sein erstes Saisonprogramm vorgestellt. Dabei wurde ihm kurz zuvor von der Berliner Kulturpolitik das Leben schwer gemacht. Wir wollten das genauer wissen.
Sind Sie erleichtert, dass Joe Chialo nicht mehr Kultursenator ist?
Na ja, im Moment guckt Berlin ja erst mal gebannt auf die Aufstellung des Doppelhaushalts 26/27 und darauf, welche Weichenstellungen für die Kultur dort verankert werden. Die Situation ist ziemlich gefährlich – nicht nur für das Konzerthaus und die gesamte Berliner Kultur inklusive freier Szene, sondern letztendlich für die ganze außergewöhnliche Stadt Berlin und deren Ansehen in der Welt. Es steht viel zur Disposition, die Perspektive ist noch unklar. Mit Sarah Wedl-Wilson kommt nun eine Senatorin, die die Szene, die Häuser, die gesamte Kultur in Berlin nicht nur gut kennt, sondern ihr auch mental sehr nahe ist. Ich bin zuversichtlich, dass es mit ihr zu einem Politikwechsel kommen kann, dafür gab es auch Anzeichen im vom Regierenden Bürgermeister gestarteten Kulturdialog. Kai Wegner hat dort angekündigt, dass es keiner Einrichtung an den Kragen gehen solle. Ich denke, damit ist auch gesagt, dass es der künstlerischen Qualität in Berlin insgesamt nicht an den Kragen gehen soll. Ich hoffe, dass nun trotz der schwierigen Haushaltssituation in Berlin Lösungen gesucht und gefunden werden.
Ist die Kürzung des Konzerthaus-Etats um 1,4 Millionen Euro vom Tisch?
Natürlich leistet das Konzerthaus einen Beitrag in der aktuellen Haushaltslage. Im Moment reden wir über Kürzungen von 800.000 Euro. Das bleibt ein dickes Brett, aber auch dank der exzellenten Auslastung der Konzerte können wir Maßnahmen finden, damit im laufenden und im kommenden Jahr umzugehen. Damit allerdings ist das Ende der Fahnenstange erreicht. Von 2027 an müssen wir andere Lösungen finden. Wir sind an der Grenze dessen, was wir leisten können.
Als Sie sich um die Intendanz des Konzerthauses bewarben, lagen Ihrem Konzept bestimmte Vorstellungen zur Programmgestaltung und auch zur Neuausrichtung des Hauses auf die Stadt zugrunde. Inwieweit hat sich nun die Geschäftsgrundlage zwischen Ihnen und dem Land Berlin geändert?
Ich glaube, dass sich der Weg zur Umsetzung und die Zeitleiste verändert haben oder sich verändern könnten. Grundsätzlich bin ich aber überhaupt nicht bereit, die Ideen, mit denen ich mich um diesen Job beworben habe, aufzugeben. Die Richtung bleibt.

Sie haben in Hamburg mit dem Resonanzraum im ehemaligen Hochbunker auch einen Konzertort abseits philharmonischer Säle erschlossen. Nun sind Sie in Berlin in einem klassizistischen Schinkel-Bau an einem zentralen Platz der Stadt. Werden Sie als Veranstalter dort bleiben oder auch aus dem Haus herausgehen?
Das Haus ist phantastisch und auch phantastisch gelegen. Zentrum unserer Arbeit bleibt das Haus. Unsere Kernaufgabe liegt darin, in diesem Haus möglichst viele Menschen zu erreichen, zu begeistern, zu inspirieren. Doch wenn das Konzerthaus am Gendarmenmarkt den Anspruch erhebt, ein Haus für alle Berlinerinnen und Berliner zu sein, dann muss man den Prozess der Öffnung, der im Haus längst eingesetzt hat, auch über das Haus hinausdenken. Haus und Orchester können den Menschen auch entgegenkommen und mit der Stadt Berlin in ihrer ganzen Dynamik noch enger in Kontakt treten. Ich denke über Kooperationen mit anderen Partnern in der Stadt nach. Die Richtung darf nicht nur aus der Stadt an den Gendarmenmarkt führen, sondern ebenso umgekehrt.
Ich habe noch keine konkreten Partner im Kopf. Wie könnte ich auch? Wir fangen doch gerade erst an, uns zu bewegen und zu orientieren. Wir müssen mit einer Suchbewegung starten: Was ist für uns langfristig sinnvoll? Was sind Bedarfe vor Ort? Das ist eine Langstrecke. Teil dieser Bewegung nach außen wird etwa unsere Saisoneröffnung in Kooperation mit zwei Freiluftkinos in Friedrichshain und im Wedding sein. Mit „Berlin Tracks“ legen wir eine neue Reihe im Konzerthaus auf, die sich an Berliner Künstlerinnen und Künstlern orientiert, die an der Peripherie der Kunstmusik unterwegs sind und sich dort ein eigenes Publikum herangezogen haben. Da ist Derya Yıldırım dabei, die in einer Begegnung der Zupfinstrumente Bağlama und Mandoline auf Avi Avital trifft. Da wird der Soulchor „Sing with me“ dabei sein und eine „Soulful Missa“ auf die Bühne bringen. Wir gehen auf die Suche und lernen unterwegs, mit welchen Partnern, in welche Bereiche, zu welchen Quartieren wir uns hinbewegen müssen.
Ist das Kernrepertoire des klassischen Konzerts ausgebrannt? Oder kommen ihm die Hörer abhanden?
Wenn Sie in unsere Jahresbroschüre schauen, finden Sie vor allem: Große Klassik für den Großen Saal, das Konzerthausorchester Berlin mit Joana Mallwitz auf der Bühne. Die großen Sinfoniekonzerte, das ist unser Kern, wir rücken nicht von dem ab, was dieses Orchester geprägt hat. Aber wir erweitern unseren Horizont. Das Kernrepertoire des klassischen Konzerts wird niemals ausbrennen, wenn wir es nicht als ein Reservat begreifen, sondern immer wieder neu kontextualisieren. Die Welt und unsere Gesellschaft entwickeln sich in rasendem Tempo. Und wir wollen für eine vielfältiger werdende Stadtgesellschaft das Haus sein, das mit Musik die Stadt auch verwandeln kann. Da können wir nicht immer das Gleiche machen. Wir müssen uns auf neue Erfahrungen einlassen.
Sie haben als eines der wenigen Konzerthäuser auch ein eigenes Orchester. Was können Sie damit anders machen als die Elbphilharmonie oder die Philharmonie Köln?
Das Konzerthausorchester Berlin ist auf überaus motivierte Weise verbunden mit seinem eigenen Haus. Am Orchester hängt die Ausstrahlung des Hauses ganz wesentlich: im Konzert genauso wie in der Musikvermittlung. Uns unterscheidet etwa von Hamburg oder Köln grundlegend, dass wir nicht hauptsächlich die programmatischen Angebote aus dem internationalen Touringmarkt auf die eigene Bühne kuratieren, sondern selbst im Haus Inhalte entwickeln.
Treten Sie mit Wünschen an Joana Mallwitz als Chefdirigentin heran, oder gibt sie die Impulse, nach denen Sie dann die Programmlinien entwickeln?
Das geht in beide Richtungen. Wir entwickeln die Vorhaben am ganzen Haus im Team, und ich bin sehr froh darüber. Joana Mallwitz fordert und entwickelt nicht nur das Konzerthausorchester mit größtem Einsatz, sie ist eine echte Botschafterin des ganzen Hauses. In ihrer Haltung vereint sich kompromissloses Qualitätsbewusstsein mit einer sehr grundsätzlichen Offenheit, wie sie Formate entwickelt, das Publikum anspricht oder selbst ansprechbar ist. Das verbindet uns.
Joana Mallwitz hatte schon vor zwei Jahren betont, wie sehr sie sich für Joseph Haydn interessiert. Nun haben Sie Ihr Festival „Vom Anfangen“ wahrscheinlich um den größten aller Anfänge herumgebaut – Haydns Oratorium „Die Schöpfung“.
Ja! So macht Programmentwicklung Spaß. „Die Schöpfung“ als Aufnahmeprojekt mit der Deutschen Grammophon war für diese Spielzeit gesetzt. Wir wollten das verbinden mit einem Festival in Kooperation mit der freien Szene, das auf dieses Werk zuläuft, und fragen: Was erzählt uns dieser Anfang? Was macht, über die jüdisch-christliche Schöpfungsgeschichte hinaus, die Situation des Anfangs aus? Rein musikalisch: aus der Improvisation heraus, aus der Begegnung mit dem Unbekannten. Aus einer Situation, die mit Euphorie wie mit Angst gleichermaßen besetzt sein kann. Deshalb lassen wir Gustav Mahlers vierte Symphonie auf das Trickster Orchester treffen oder machen ein Schülerprojekt, in dem es ums Prokrastinieren geht – um die Angst vorm Anfangen.
Eine Reihe heißt „Herz über Kopf“ mit Charly Hübner. Was hat Charly Hübner über Musik zu sagen?
Tatsächlich viel. Die Grundidee war, ein Gesprächsformat im Haus zu haben, in dem aus Fan-Perspektive über Musik geredet wird. Mit eigenen, assoziativen Zugängen und in einer sehr persönlichen Sprache. Gespräche über Musik werden oft ja von der Annahme begleitet, man müsse auf bestimmte Weise eingeweiht sein. Die Menschen trauen sich nicht, ihre Erlebnisse und Vorlieben zu beschreiben, weil sie denken: Ich kenne mich ja nicht aus. Es kann etwas Ermutigendes haben, eine Situation zu erleben, in der diese Angst aufgehoben wird. Charly Hübner spricht aus einer großen Liebe zur Musik und formuliert überraschende, inspirierende Perspektiven.
Wird er nicht nur zu den Menschen, sondern auch mit Ihnen reden?
Das ist durchaus so gedacht. Er wird Gäste haben, Platten auflegen. Wir werden hin und wieder Livemusik dabeihaben. Wir basteln noch am Ablauf der einzelnen Abende.
Warum sollen wir dem Fan mehr vertrauen als dem Experten?
Sollen wir gar nicht. Wir bieten viel und weiterhin Experten-Input an, etwa bei den unglaublich beliebten Einführungen mit Joana Mallwitz. Es geht in „Herz über Kopf“ nicht um ein Primat des Dilettierens und den Abschied vom Anspruch. Es geht um eine weitere Perspektive und darum, dass Menschen sich eine eigene Sprache über musikalische Erlebnisse zutrauen.
Jetzt haben wir viel über Stadtgesellschaft und Bedarfe gesprochen. Welche Art von Kunst interessiert Sie denn als Intendant?
Das isoliert zu qualifizieren, ist gar nicht so einfach. Mir geht es beim Kunsterlebnis immer um Zusammenhänge: Was passiert zwischen den Werken, die in einem Programm stehen? Welche Fragen, Erlebnisse, Konflikte, Reibungen entstehen da? Das ist für mich oft interessanter als das einzelne Kunstwerk. Die Erzählebenen zwischen den Werken eines Abends, einer Reihe, einer Saison interessieren mich sehr, auch unabhängig von eigenen Vorlieben. Ich hörte vor wenigen Tagen ein wunderbares Gespräch mit der Popsängerin Sophie Hunger. Sie erzählte, sie sei vor jedem Konzert aufs Neue fasziniert, dass da achthundert, tausendfünfhundert Leute quasi Gott und die Welt in Bewegung setzen, um einen Menschen mit ein paar Instrumenten und einer Stimme auf der Bühne zu erleben, dass sie dafür Geld bezahlen, einen Babysitter besorgen, Transport organisieren et cetera – um dann nach Hause zu kommen und eigentlich nichts in der Hand zu haben, was sie ihren Freunden zeigen könnten. Sie könnten nur erzählen von einem Erlebnis. Das komme ihr jedes Mal wie eine kleine Revolution vor. Sie sei, so hat sie es ausgedrückt, geradezu „stolz auf unsere Spezies“, dass wir uns gegenseitig auf diese Art beweisen, dass wir alle auf der Suche sind, nach etwas, das den Raum hinter den materiellen Dingen und den Notwendigkeiten des Überlebens und der Fortpflanzung erweitert. Ich finde, genau in diesem Sinne muss das Konzerthaus Berlin ein wichtiges Haus für die Stadt sein.