Dass Aale ihr Dasein in der Sargassosee beginnen und 5000 bis 6000 Kilometer quer über den Atlantik schwimmen, um ihr Erwachsenenleben in den Flüssen und Seen Europas zu verbringen, gehört zu den großen Wundern der Natur. In ihrem neuen Werk „Move!“ lässt die Biologin und Autorin Sophia Kimmig die Leser zu Reisebegleitern werden, wie die noch durchsichtigen Larven des Aals aus der schwarzen Wasserwelt ihrer Geburt wie von unsichtbarer Hand geführt in die richtige Richtung finden, nur um drei Jahre später vor den Küsten Europas anzukommen und dann einen Fluss hinaufzuwandern.
„Er wusste, dass dies der Weg sein würde, der ihn an sein unbekanntes Ziel führt“, schreibt Kimmig, als wäre ein Aal ihr Romanheld. Diese persönliche, ihren Sujets zugewandte Art verbindet sich in dem Buch auf angenehme Weise mit wissenschaftlichem Sachverstand. Den Lebenszyklus des Aals kontrastiert die Autorin mit dem Begriff der Heimat, der für uns Menschen meist einen festen Ort bedeutet. „Wo ist bei diesem Wechsel zwischen Süßwasser und Salzwasser, zwischen See und Ozean die Heimat?“, fragt Kimmig und kommt darüber zu einer der wesentlichen Botschaften ihres Buchs: Ohne Fortbewegung gäbe es komplexes Leben auf der Erde gar nicht – und auch keine Heimat als Gegenpol zum Wegsein.
Ein Pfeil, der in einem Weißstorch steckt
Dass die meisten Tiere sich fortbewegen können, kommt einem wie eine kaum zu erwähnende Selbstverständlichkeit vor, bis einen ein gutes Wissenschaftsbuch wie dieses mit seinem Stoff über 330 Seiten hinweg bei der Stange hält. Wie so unterschiedliche Lebewesen wie Polarfüchse, Gnus, Weißstörche und selbst Schmetterlinge es schaffen, ohne Landkarte und GPS gewaltige Distanzen zu überwinden, in die richtigen Richtungen zu navigieren und präzise ihre weit entfernten Ziele zu finden, stellt Kimmig als ehrfurchtgebietend dar, gerade weil die Naturwissenschaft erst dabei ist, diese Mechanismen zu ergründen.
Sophia Kimmig: „Move!“. Wie Fortbewegung das Leben der Tiere bestimmt.HanserAber auch die offenen Fragen, das noch Unbekannte kommt nicht zu kurz. Wissenschaftliche Methoden und ihre Entstehung spielen in „Move!“ eine wichtige Rolle, von der Entdeckung des Vogelzugs mithilfe eines Pfeils, der in einem Weißstorch steckte, bis hin zu modernen Verfahren, die kleine Sender und Satelliten benutzen.
Zu den vielen Stärken des Buchs zählt, dass Kimmig, wenn man schon ins Staunen gekommen ist, stets weitere interessante, erstaunliche Wendungen nachlegt: im Fall der Aale zum Beispiel, dass sie quer durch die Weiten des Atlantiks mit hochsensiblem Geruchssinn den chemischen Spuren ihrer Artgenossen folgen und dabei zu „räumlichem Riechen“ in der Lage sind. Dass sie zusätzlich eine „mentale, geomagnetische Karte“ nutzen, lässt einen fragen, ob wir Menschen vielleicht im Vergleich zu vielen Tieren sinnlich eher eingeschränkt sind.
Auch eine Erde ganz ohne Bewegung wäre vorstellbar gewesen
Zu lesen ist auch von der Hypothese, die Wanderungen dieser Fische seien zu einer Zeit entstanden, als Amerika und Europa geologisch noch viel enger beieinanderlagen und die Schwimmdistanz deutlich geringer war. „Erst im Lauf der Jahrmillionen sind die Wege weiter geworden, also hätte jede neue Aalgeneration nur einen wenige Zentimeter längeren Weg zurücklegen müssen“, schreibt Kimmig.
Beeindruckende Rekorde bei Laufgeschwindigkeiten und Vogelzugentfernungen stellt die Autorin zwar dar, hält sich aber nicht lange bei ihnen auf. Vielmehr geht es ihr darum, ein Gespür dafür zu fördern, wie Fortbewegung die Evolution ganz grundsätzlich revolutioniert hat, weil eine endlos große Zahl möglicher Konstellationen von kleinsten bis größten Tieren zueinander in Zeit und Raum die Dynamik des Lebens ungemein erhöht. Theoretisch wäre auch ein Planet rein sesshafter vielzelliger Lebewesen denkbar – die Erde war sehr lange einer. Doch einmal in Bewegung gekommen, gab es kein Halten mehr.
Kimmig verdichtet das massenhafte Laufen, Springen, Schwimmen, Fliegen rund um den Planeten zur Vibration der Biosphäre und zoomt immer wieder einfühlsam in die Lebenswelten und Lebensweisen einzelner Tiere: etwa jenes Polarfuchses, der auf den ersten Buchseiten über die Insel Spitzbergen streift, auf der er zur Welt gekommen ist. Seine unwahrscheinliche Wanderung führt durch weiße Weiten, in denen der Hunger wartet, durch Temperaturen, die den meisten anderen Tieren den Garaus machen würden, über den Arktischen Ozean – bis hinüber in den Norden von Kanada, wo das Tier 76 Tage nach Beginn der Reise ankommt. Nachvollziehen konnten die Mammutwanderung Wissenschaftler, die das Weibchen mit einem Peilsender ausgestattet hatten.
Das Tier muss doch noch Heimat finden
Das Buch nähert sich dem Phänomen der Bewegung und der tierischen Migrationen nicht systematisch wie ein Lehrbuch, sondern in Form von zehn Geschichten, die eher lose miteinander verbunden sind. Das irritiert nur dort, wo man als Leser doch gerne mehr Lehrbuch hätte. Die Evolutionsgeschichte sollte nach den ersten beweglichen Einzellern, die mit kleinen Schwänzchen durch wässrige Lösungen steuern, und den ersten Vielzellern, die „zunächst einmal nur herumgestanden“ sind, zur Entstehung und Funktionsweise der Muskeln und Grundlagen der Physiologie führen. Im Buch landet man aber abrupt bei einem anderen Thema.
Auch manche Wiederholung hätte ein strengerer Lektor herausfischen können. Insgesamt ist Kimmig ein Buch gelungen, das mit einer feinsinnigen Sprache komplexe wissenschaftliche Sachverhalte verständlich vermittelt und mit lebendigen Darstellungen fesselt.
Die Aale haben übrigens doch so etwas wie eine Heimat. Nach einem oft sehr langen Erwachsenenleben in Europa kehren sie irgendwann in die Sargassosee zurück. Sie haben sich große Fettreserven angefressen, die sie unterwegs in das Wachstum von Geschlechtsorganen investieren, und steuern bestimmte Meeresströmungen an, um schneller ans Ziel zu kommen. Nach der Fortpflanzung sterben die Alttiere. Ein neuer Zyklus beginnt.
Sophia Kimmig: „Move!“. Wie Fortbewegung das Leben der Tiere bestimmt. Hanser Verlag, München 2025. 384 S., Abb., geb., 26,– €.

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