Thomas Nagel: Im Keim einer Empfindung liegt die zukünftige Einsicht

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Unscheinbare Buchtitel mögen, im Lichte der Aufmerksamkeitsökonomie betrachtet, von verlegerischem Wagemut zeugen. „Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt“ könnte ein solcher Titel sein. Womöglich aber ist er in seiner an Einfallslosigkeit grenzenden Zurückhaltung schon wieder auffällig. Autor des auch im englischsprachigen Original entsprechend betitelten schmalen Werkes ist Thomas Nagel. Seit einem guten halben Jahrhundert bereichert er die transatlantische philosophische Diskussion um differenzierende Argumentationen, die sich nicht selten einem Entweder-oder verweigern. Einen Namen hat er sich in den Siebziger- und Achtzigerjahren gemacht, mit Publikationen übrigens, deren Titel durchaus mehr intellektuellen Charme verströmen als derjenige seiner neuesten, insbesondere: „Wie ist es, eine Fledermaus zu sein?“ und „Der Blick von nirgendwo“.

Die moralphilosophischen Gedankengänge, die Nagel in seinem neuen Buch unternimmt, könnten, wenn denn für sie eine publikumswirksame , wiewohl nicht unbedingt charmante Überschrift gesucht würde, unter dieser Frage stehen: „War Sklaverei schon immer moralisch falsch?“ Die Antwort, die Nagel – nicht in dieser Ultrakurzform – gibt, lautet: Ja, Sklaverei war, seit es sie gab, moralisch falsch, aber sie war nicht immer gleich falsch. Sie wurde im Laufe der Geschichte sozusagen immer falscher und moralisch verwerflicher; dies in dem Maße, in dem die Idee von Gerechtigkeit, Menschengleichheit und Menschenwürde sich zu einer allgemeinen moralischen Wahrheit entwickelte.

„Moralische Wahrheiten“ – sie liefern uns Gründe dafür, etwas zu tun oder nicht zu tun – sind in des Autors Augen anders als naturwissenschaftliche Erkenntnisse keine zeitlosen Wahrheiten. Zwar müssten auch naturwissenschaftliche Wahrheiten erst gefunden, entdeckt werden. Dennoch sei beispielsweise die Aussage „Salz ist Natriumchlorid“ auch schon wahr gewesen, als noch niemand Vorstellungen von chemischen Elementen und deren Verbindungen gehabt habe.

Irgendeine Form von grundlegender Unantastbarkeit

Im Kontrast dazu sei die Wahrheit einer moralischen, einer normativen Aussage – wie etwa „Sklaverei ist verwerflich“ – nicht davon zu trennen, dass es für Menschen einen Grund gebe, sich dieser Wahrheit entsprechend zu verhalten. Die Existenz eines solchen – ebenso vernünftigen wie motivierenden – Grundes hängt für Nagel davon ab, dass er den Menschen auch „zugänglich“ ist. Er könne nicht vollkommen „verborgen“ sein, wie es etwa die chemische Zusammensetzung von Salz in ferner Vergangenheit war.

 „Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt“.Thomas Nagel: „Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt“.Suhrkamp Verlag

Im Beispielsfall der Sklaverei unterscheidet Nagel zwischen antiken und modernen Verhältnissen. Zwar habe zur Zeit des Aristoteles, der die Sklaverei mit Hinweis auf eine von Natur aus gegebene Ungleichverteilung der Begabungen zu vernünftigem Denken zu rechtfertigen versuchte, Gerechtigkeit noch nicht als „allumfassender Wert“ und universale Idee gegolten, noch nicht als Prinzip politischer Institutionen, das es ausschließt, dass Menschen über andere Menschen als Eigentum verfügen. Jedoch sei es „schwer vorstellbar“, dass die Griechen der Antike nicht von einem „Gefühl für die Unfairness“ des gewaltigen Machtgefälles beschlichen worden seien, das zwischen Herr und Sklave bestehe. Damit ein derartiges „moralisches Unbehagen“ aufkeime, reiche es doch wohl – so tastet Nagel sich spekulierend voran –, dass jemand imstande gewesen sei, sich in die Lage eines anderen zu versetzen.

Mit Blick auf das gesamte „komplexe System individueller Rechte“, das die heutige Menschenrechtskultur trägt, nimmt der Autor – den Gedanken eines Empfindungskeims verallgemeinernd – an, es habe ein „vages Gefühl“ als Vorläufer, das Gefühl, alle Menschen könnten „irgendeine Form von grundlegender Unantastbarkeit“ für sich beanspruchen. Was als unverfügbares Eigenstes geschützt sein soll, das sei jedoch „nicht durch die reine Vernunft“ zu bestimmen, hänge vielmehr von „Urteilen in konkreten Situationen“ ab, in denen sich herausfordernde Fragen stellten, die in der Geschichte zuvor sich nicht hätten stellen können.

Und wie steht's um die Realpolitik?

Die Frage, auf die Menschenrechte die Antwort geben, ist in Nagels gewissermaßen vernunftgeschichtlicher Rekonstruktion des mit diesen Rechten realisierten moralischen Fortschritts die Frage nach der Beschränkung der staatlichen Macht über die Individuen: Welche Beschränkung muss in die politisch-rechtliche Verfasstheit eines Staates eingebaut sein, damit die Individuen in der Lage sind, „die mit Zwangsgewalt ausgestattete Autorität des Staates über sie als moralisch legitim zu betrachten“? Die Frage setze voraus, dass einem staatlichen Gemeinwesen kollektive Autorität erst durch „seine Subjekte“ zukomme – Subjekte, die nicht nur Rechtsunterworfene, sondern Träger subjektiver Selbstbestimmungsrechte seien.

Als Beispiel dient Nagel (auch) die Religionsfreiheit, die sich erst allmählich aus den Erfahrungen der Religionskriege habe entwickeln können. Als individuelles Freiheitsrecht, als das sie heute begriffen wird, war Religionsfreiheit noch nicht der tragende Grund für die frühen Konzepte und Praktiken staatlich gewährter Toleranz; diese hatten primär die Vermeidung politisch-sozialen Unfriedens und der damit verbundenen Kosten zum Ziel, nicht den Schutz persönlicher Glaubensüberzeugungen.

Die Perspektive eines historischen Lernprozesses erscheint vertraut und hat mindestens eine Anfangsplausibilität für sich. Kniffliger wird es, nimmt man hinzu, dass Thomas Nagel im Spektrum der philosophischen Strömungen der Gegenwart sich selbst als Vertreter eines „moralischen Realismus“ identifiziert. Mit landläufigem politischen Realismus – Stichwort „Realpolitik“ – hat der moralische wenig gemein, er ist ungefähr dessen Gegenteil. Nagel selbst versteht darunter die Position, dass es „normative Wahrheiten“ über uns selbst und andere Personen gebe, „deren Wahrheit nicht davon abhängt, ob wir sie glauben“.

Der Blick von außen auf uns

Für sein Festhalten am Wahrheitsbegriff wird er von Zeitgenossen gelobt, die dem grassierenden Relativismus unserer „postfaktischen“ Gegenwart etwas entgegensetzen wollen. Wie aber steht diese Definition zu der bereits zitierten These, wonach ein Grund, sich so oder anders zu verhalten, den Menschen „zugänglich“ sein müsse, für die er ein Grund soll sein können? Eine Spannung zwischen beiden Aussagen will Nagel nicht aufkommen lassen: Die „Zugänglichkeit“ eines solchen Grundes bestehe in der „Befähigung des Subjekts, zu verstehen, dass es diesen Grund hat“, nicht aber darin, dass es „tatsächlich“ davon überzeugt sei, ihn zu haben.

Haben, als hätte man nicht? Hier tun sich – wenn nicht Abgründe, so doch – feine Risse im Boden der Eiswüste der Abstraktion auf, die zu erkunden es professioneller Ausrüstung und Erkenntnisinteressen bedarf. Nicht allein für Philosophen vom Fach relevant und auch leichter zugänglich dürfte ein zweiter thematischer Fokus sein, obgleich auch er, wie der erste mit der Opposition von „realistischen“ und „antirealistischen“ Moralauffassungen, mit einer akademischen Dauerkontroverse verknüpft ist – derjenigen zwischen „konsequenzialistischen“, insbesondere „utilitaristischen“ Theorien der Ethik einerseits und andererseits „deontologischen“, insbesondere an Kant anschließenden Konzepten.

Während die einen Handlungen nach ihren positiven oder negativen Folgen bewerten, beurteilen die anderen sie nach den Handlungen selbst innewohnenden („intrinsischen“) Eigenschaften. Ihren Sitz im Leben hat die Kontroverse nach Nagel in einem moralischen Konflikt, den er nicht als „philosophisch erzeugtes Konstrukt“ erachtet. Spürbar werde der Konflikt, sobald ein unbedingtes Verbot (wie etwa das Folterverbot) eine Handlung blockiere, die ein größeres Übel als das mit einer Verbotsübertretung verbundene (beispielsweise den gewaltsamen Tod vieler Menschen) verhindern würde.

Den Konflikt beschreibt er auch als Widerstreit zwischen einer Innenperspektive und einem „Blick von außen auf uns“, einem Blick, wie ihn, neben und mit den utilitaristischen Ethiken, Kognitionswissenschaft und Evolutionäre Psychologie kultivieren. Thomas Nagel versucht, ihn nicht zu lösen. Er begnügt sich, nach durchaus subtilen und erhellenden Überlegungen, mit dem Fazit, es „würde etwas verloren gehen“, gewänne die Außenperspektive die Oberhand. Für einen politischen Realismus mag das als Ertrag ausreichen, für einen moralischen mutet es allzu bescheiden an.

Thomas Nagel: „Moralische Gefühle, moralische Wirklichkeit, moralischer Fortschritt“. Aus dem Englischen von Karin Wördemann. Suhrkamp Verlag, Berlin 2025. 111 S., geb., 23,– €.

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