Es ist der zweite überregional wahrnehmbare Paukenschlag des Kulturhauptstadtjahrs in Chemnitz: Nach der sensationellen Ausstellung „European Realities“ im Museum Gunzenhauser hat im Stammhaus der städtischen Kunstsammlungen nun eine große Edvard-Munch-Schau eröffnet. Schon in den ersten Tagen reichten die Besucherschlangen weit auf den Theaterplatz. Oben gab es dann vor dem Einlass zum ersten Ausstellungsteil eine weitere Warteschlange, der Zutritt richtet sich nicht nur nach den beim Ticketkauf festgelegten Zeiten, sondern auch nach der aktuellen Zahl bereits eingelassener Besucher. Und Munch wollen in Chemnitz viele Menschen sehen.
Das hat mit der engen Verbindung von Künstler und Stadt zu tun. Der norwegische Maler war 1905 erstmals hier zu Gast, als er mehrere Porträts der reichen Industriellenfamilie Esche malte, die heute alle als Leihgaben im Zürcher Kunsthaus hängen – sehr zum Leidwesen von Chemnitz, aber die Esches hatte es 1945 nachvollziehbarerweise in die Schweiz gezogen. Für die aktuelle Ausstellung sind zwei Gemälde aus Zürich entliehen worden, aber der Phantomschmerz über die fehlenden anderen sechs ist spürbar. Zumal vor einem Vierteljahrhundert schon einmal ein größeres Konvolut daraus den Weg zurück an den Entstehungsort gefunden hatte, als Munch hier eine Retrospektive gewidmet war, die mit fast 150 Werken um ein Drittel umfangreicher war als die jetzige.
Warum Munch und Marina Abramović gut zusammen passen
Die trägt im Titel „Angst“, und natürlich hat dabei jeder jenes Bild vor Augen, das die ganze Welt mit Munch verbindet: den „Schrei“, erstmals gemalt 1893 und dann noch einige weitere Male. Chemnitz hat sich sehr bemüht, eine dieser Ikonen zu bekommen, aber obwohl gerade aus Norwegen großzügig ausgeliehen wurde, musste man sich am Ende mit einer Lithographie des Motivs begnügen, die Munch 1895 in Berlin angefertigt und mit dem deutschen Titel „Geschrei“ versehen hatte. Die Technik des Lithographierens hatte er da gerade erst für sich entdeckt – durch das ikonische Selbstbildnis mit Knochenarm.
In Chemnitz ist es höchst evokativ kombiniert mit einem halbstündigen Video, für das die Performancekünstlerin Marina Abramović ihr Gesicht unter einer windbewegt bedingt sich ständig wandelnden Goldfolie gefilmt hat. Es ist eines von rund dreißig zeitgenössischen Werken, die mit Munch und der Angst in Dialog treten, darunter auch Bilder von Andy Warhol, Georg Baselitz oder Neo Rauch, um drei weitere Berühmtheiten zu nennen. Weitaus origineller als diese aber verhalten sich zum Thema neben Abramovićs Video die ausgestellten Arbeiten von Osmar Osten, Sascha Weidner oder Karolina Breguła.

Das gespenstische Selbstporträt entstammt dem mehr als fünfzig Munch-Blätter umfassenden Chemnitzer Museumsbesitz, der die NS-Aussonderungsaktion „Entartete Kunst“ im Jahr 1937 wundersamerweise überstand. Das hielt die Kunstsammlungen aber nicht davon ab, ihr für die erste Chemnitzer Munch-Retrospektive (1929) erworbenes Hauptwerk, das in einer Phase tiefer Depressionen 1906/08 entstandene Gemälde „Zwei Menschen – Die Einsamen“, noch 1937 an den mit der Verwertung ungeliebter Moderne befassten Kunsthändler Hildebrand Gurlitt abzugeben – aus freien Stücken (oder vorauseilendem Gehorsam), weil das Bild den Nazigeschmacksverächtern unangenehm hätte auffallen können. Angst also auch hier. Was die Stadt damals verloren hat, das kann jetzt, 78 Jahre später, erstmals wirklich eingeschätzt werden, denn das Werk ist aus dem Busch-Reisinger-Museum in Harvard angereist.
Was Munch von Max Klinger übernahm
Auf blassrosa getönter Wand ist dieses Gemälde ein faszinierender Blickfang neben einer grandiosen „Sternennacht“ aus dem Museum Folkwang. Überhaupt ist die Farbregie der Ausstellung wunderbar geglückt: Sanfte Pastellstimmungen akzentuieren Einzelwände oder -räume des ansonsten wenig abwechslungsreichen Chemnitzer Sonderausstellungsbereichs. Der besteht aus zwei voneinander getrennten Flügeln, in derem rechtem der „Schrei“ hängt – und offenbar die Besucher magisch anzieht, denn dort bildet sich die genannte Einlassschlange, während die andere Sektion mit „Zwei Menschen – Die Einsamkeit“ als Höhepunkt ohne Wartezeit betreten werden kann. Wobei man natürlich doch noch in die Schlange kommt, wenn man den weiteren Ausstellungsteil sehen will, in dem sich auch die erwähnten berühmten Nachfolger finden.
Aber nicht nur die Einflüsse der munchschen Angstschürung auf heutige Künstler sind Thema der Schau, sondern auch wiederum Munchs Vorläufer, namentlich in Gestalt von seinem Landsmann Christian Krohg, von Goya und vor allem von Max Klinger, dessen gleich mehrere ausgestellte symbolistische Radierungen belegen, wie viel der nur wenig jüngere, aber deutlich später künstlerisch aktiv werdende Norweger von dem Deutschen gelernt hat. Dabei wird das schlagendste Beispiel dafür in der Schau nicht einmal ausgeführt: Für das späte Meisterwerk „Mörder in der Allee“ (1919), entliehen vom Munchmuseet in Oslo, diente ersichtlich Klingers Radierung „Verfolgung“ von 1879 als Inspiration. Sie jedoch fehlt in Chemnitz.
Munchs Lob für Chemnitz im Jahr 1929
Dafür gibt es eine andere Entdeckung zu machen: die künstlerische Verwandt-, ach was, Geschwisterschaft von Munch und Marianne von Werefkin. Die immer noch vor allem als Muse Alexej Jawlenskys bekannte Malerin erweist sich in Chemnitz mit zwei fulminant ausgewählten Werken – „Sonntagnachmittag“ und „Im Café“ – als ebenbürtig in Kolorit und Stimmung. Da hat der lokale Hausheilige Karl Schmidt-Rottluff, der als Munch-Bewunderer hier natürlich nicht fehlen darf (zumal er 1929 eigens den Rahmen für die frisch angekauften „Zwei Menschen“ entworfen hatte), buchstäblich nichts Vergleichbares zu bieten. Munch war eben immer weitaus mehr als bloß Expressionist; seine Kunst wurzelt im Symbolismus und findet bei Magritte oder Dix deshalb konsequenteren Nachklang als in den Werken der „Brücke“. Aber das ist nicht Sache der Chemnitzer Ausstellung.
Die besticht durch ihre kluge Auswahl vom ganz frühen Schaffen des 1863 geborenen Munch bis hin zum 1930 lithographierten Selbstporträt mit Weinflasche. Danach sank die Produktivität des gesundheitlich angeschlagenen Künstlers drastisch; bereits 1929 hatte er es nicht mehr zur Chemnitzer Retrospektive geschafft, lobte sie aber brieflich als bislang beste Ausstellung zu seinem Werk. Die Munch-Tradition hier in der Stadt ist also überreich, und die jüngste Fortsetzung knüpft aufs Schönste daran an. Als Munch 1944 starb, war seine norwegische Heimat von den Deutschen besetzt, was große Feierlichkeiten zum achtzigsten Geburtstag im Vorjahr indes nicht verhindert hatte. Da dürfte den Chemnitzern die eigene Feigheit von 1937 bewusst geworden sein. Um ihre Kulturhauptstadtrenommierausstellung „Angst“ müssen sie sich aber keine Sorge machen – zwar nicht besonders mutig, aber exzellent.
Edvard Munch – Angst. In den Kunstsammlungen Chemnitz; bis zum 2. November. Der sehr gut bebilderte, jedoch textlich unambitioniert gehaltene Katalog ist bei Hirmer erschienen und kostet im Museum 38 Euro, sonst 50.