Ashoka (304–232 v. Chr.), Kaiser von Magadha, das sich vom heutigen Afghanistan bis ins heutige Bangladesh erstreckte, ist heute in allen politischen Lagern Indiens eine populäre Figur: Unter Hindu-Nationalisten gilt er als der ruhmreiche erste Einiger der Nation (von der damals natürlich noch keine Rede sein konnte). Dabei bleibt der Umstand, dass derselbe Ashoka zugleich ein bekennender und wohl auch missionierender Buddhist war, außen vor. Ganz im Gegensatz dazu stellen buddhistische Autoren in der zumeist etliche Jahrhunderte nach seinem Tode verfassten Mehrzahl literarischer Quellen zu Leben und Werk dieses Monarchen dessen spektakuläre öffentliche Bekehrung zur buddhistischen Religion und ihrem „Dharma“ ins Zentrum.
In der letzten seiner zahlreichen großen Inschriften begründete Ashoka seine Hinwendung zum Weg des Buddha mit der persönlichen Reue über die Hunderttausende von Kriegsopfern, die er im Jahr 260 mit seinem Eroberungsfeldzug im Nachbarstaat Kalinga zu verantworten hatte. Deshalb habe er den Weg des buddhistischen Dharma gewählt und sei ein Upasaka geworden, ein Laienmitglied der buddhistischen Gemeinde. Ashoka machte die Lehren des Buddha zwar nicht zur Religion seines Reiches, förderte aber buddhistische Klöster, Tempel und Gedenkstätten und unterstützte offenbar auch buddhistische Missionen.
Aber auch Indiens Progressive, Liberale, Laizisten und Verteidiger eines religiös neutralen Staats verstehen sich als Anhänger oder Verehrer Ashokas. Der indische Politische Ökonom und Nobelpreisträger Amartya Sen rühmt ihn als Vorreiter der religiösen Toleranz und der freien öffentlichen Debatte, lange bevor ähnliche Ideen in Europa aufkamen („The Argumentative Indian“, 2005). Kaum anders sieht ihn der kosmopolitische Linke Pankaj Mishra in seiner Reportage „Unterwegs zum Buddha“ (2005). Freilich fügt er hinzu, Ashokas Versuch, die Ideen des Buddha auf die Wirklichkeit eines Imperiums anzuwenden, habe einfach scheitern müssen, bestenfalls auf die noble Art. Das Magadha-Reich zerfiel recht bald; in der Ursprungsregion des Buddhismus in Nordindien stellen seine Anhänger seit Jahrhunderten nur noch eine verschwindende Minderheit dar.
Reue über eigene Grausamkeiten im Krieg
Ashoka führte keine buddhistische Staatsreligion ein, alle Religionsgemeinschaften (Pasandas) sollten sich vielmehr gemeinsam um die öffentliche Ordnung, um das Dharma bemühen, dies werde es jeder Gruppe ermöglichen, nach ihrer Fasson (nach ihrem spezifischen Dharma) selig zu werden. Diese nicht-„konfessionelle“ Natur von Ashokas Dharma wird am 26. Januar 1950, dem Tag, an dem sich das neue Indien seine Verfassung gab, im offiziellen Staatswappen gewissermaßen als Staatsräson besiegelt: Das Wappen zeigt das Vier-Löwen-Kapitell der berühmten Ashoka-Säule, die der Kaiser in Sarnath errichten ließ.

Der in Sri Lanka geborene Patrick Olivelle, ein Doyen der Indologie in den Vereinigten Staaten, hat bereits eine Reihe antiker Hindu-Texte ediert und interpretiert. Auch bei seiner Suche nach dem historischen Original unter den „vielen Ashokas“ der diversen Anhängerschaften geht er mit philologischer Präzision vor: Er akzeptiert einzig Originaltexte Ashokas als Beweisstücke, nämlich dessen Felsenedikte, Inschriften und Botschaften (übrigens die ersten Schriftdokumente Indiens überhaupt). In diversen indischen Schriften und Sprachen verkündet der Kaiser in ihnen seinen Sinneswandel hin zur buddhistischen Lehre und die daraus folgenden politischen Entscheidungen, gegenüber seinen westlichen Nachbarn auch in griechischer und aramäischer Sprache.
Olivelles Übersetzer Axel Michaels, selbst Autor des Standardwerks „Der Hinduismus“ (1998), hat Ashokas Inschriftenkorpus als Anhang zu diesem Buch eigens übersetzt: die Leser können bei allen Deutungen Olivelles sogleich den kaiserlichen Text gegenlesen. Das führt zwar mitunter zu Redundanzen und Wiederholungen der zitierten Texte, hat aber einen Vorteil: Wer der Interpretation Ashokas als ökumenischer Philosophenkaiser nicht völlig zu folgen vermag, kann genau den Punkt bestimmen, an dem diese Deutung ihm zu sehr von Olivelles eigenen politischen Idealen und interreligiösen Wünschen geprägt scheint.
Die harmonische Gesellschaft bleibt hierarchisch gegliedert
Der Kaiser motivierte seine Hinwendung zur Lehre des Buddha mit der Reue über eigene Grausamkeiten im Krieg: statt durch Gewalt wollte er fortan durch Dharma siegen. Dessen erstes Gebot sei die ahimsa, die Gewaltlosigkeit. Ein Sieg im Dharma aber könne nur durch beständiges Streben nach sozialer Harmonie und innerer Erleuchtung errungen werden; nur dieser Weg führe zu jenem sozialen Frieden im Reich, den Ashoka zudem mit einigen ‚wohlfahrtsstaatlichen‘ Erlassen zu medizinischer Versorgung, auch durch den Bau von Straßen und Brunnen, befördern will.
Ashokas harmonische Gesellschaft bleibt hierarchisch gegliedert: Sein Bemühen um innere wie soziale Harmonie betrifft alle sozialen Gruppen, allerdings mit je unterschiedlichen Pflichten: gegenüber den Ältesten und Eltern (Gehorsam), gegenüber Asketen, Mönchen und Brahmanen (Geschenke), gegenüber Freunden und Verwandten (Respekt), gegenüber Dienern und Sklaven (angemessener Respekt) und gegenüber Tieren (ahimsa: Tötungsverbot). Freilich haben alle Gesellschaftsmitglieder im eifrigen Bemühen um Fortschritte im Dharma gleichermaßen Aussicht auf „vollkommenes Heil in dieser und in der nächsten Welt“. Ashokas Universalismus oder gar (wie Upinder Singh formulierte) der „Sozialismus“ dieses Kaisers bleibt ein „soteriologischer“ – beschränkt auf den Zugang zur Erlösung in der nächsten Welt.
Kaiser Ashoka hat sich zwar als buddhistischer Laie identifiziert, doch seine Inschriften schweigen zur Lehre des Erleuchteten: Kein Wort zur Universalität des menschlichen Leids (dukha) im beständigen Kreislauf (samsara) von Leben, Tod und Wiedergeburt, ganz zu schweigen von der Erlösung im nirvana. Hingegen ist der Ordnungsbegriff Dharma allgegenwärtig in der gesamten indischen Tradition und ihren Religionen: Ashoka hat somit durch seinen Gebrauch dieses Begriffs in bewusst „strategischer Ambivalenz“ eine spezifische (etwa: buddhistische) Motivation mit einem allgemeinen ethisch-politischen Ordnungsbegriff amalgamiert. Konnte er auch seine Untertanen überzeugen?
Ashokas Reich und Reform in Magadha fällt in eine historische Periode, die Axel Michaels in seiner Darstellung des Hinduismus eine Zeit des „asketischen Reformismus“ nennt: Im dritten Jahrhundert entstehen mit dem Wachstum städtischer Zentren neue asketische Bewegungen wie Buddhismus und Jainismus; von der ländlichen Kaste der Brahmanen (den bisherigen Monopolisten heiliger Texte und Rituale) mussten diese als Gefahr empfunden werden. In Ashokas Edikten verlieren die Brahmanen nun ihr Privileg gegenüber anderen Religionsgruppen und haben dieselben Toleranznormen eines staatlich überwachten Dharma zu respektieren. Ob diese Spielregeln funktioniert haben, wissen wir nicht.
Ashokas Dharma zweiter Ordnung eine „Zivilreligion“ zu nennen, wie Olivelle am Ende seines Buchs vorschlägt, ist ein irreführender Anachronismus, der keinerlei Klarheit schafft. Doch sind diesem Buch – da ist dem Übersetzer Axel Michaels zuzustimmen – viele Leser zu wünschen.
Patrick Olivelle: „Ashoka“. Indiens philosophischer Kaiser. Aus dem Englischen von Axel Michaels. Kröner Verlag, Stuttgart 2025. 450 S., Abb., geb., 34,– €.