Man stelle sich vor, die Frankfurter Buchmesse würde so eröffnet wie die Videospielmesse „Gamescom“ in Köln. Eine gefüllte Halle, eine Videoleinwand von der Größe eines halben Fußballfeldes (in etwa) und dann: ein einziger moderierter Werbeblock in Teleshopping-Manier: „pre-purchase now“, kauf die Katze im Sack. Im Fall der Buchmesse würden dann unter dem Jubel des Publikums unfertige Buchtitel angekündigt – „der neue Kehlmann, oder endlich: der letzte George R.R. Martin“ –, Waschzettel würden im Akkord verlesen; Autoren dürften je nach Verlagsbudget in drei Sätzen ihr Werk bewerben und in die Runde grüßen.
Nach solchem Muster verlaufen auf der ganzen Welt viele Auftaktveranstaltungen der vom Aussterben bedrohten videospielbezogenen Live-Ereignisse; die „Gamescom“, die am Dienstagabend vom Videospieljournalisten und Moderator Geoff Keighley eröffnet wurde, kann von sich behaupten, unter diesen die größte zu sein. Nun wurde schon einiges darüber geschrieben, dass der Lack solcher Spektakel ab sei.
Dennoch staunt man, dass die Hypemaschine immer noch funktioniert; dass sich Hunderte von Menschen Werbung ansehen und frenetisch beklatschen. Dabei scheint es völlig egal zu sein, ob die Spiele mittlerweile in die vierte („Warhammer 40000: Dawn of War IV“), die Siebte („Call of Duty Black Ops 7“) oder die Neunte („Resident Evil Requiem“) Iteration einer Reihe gehen. Nicht umsonst heißt es in einer Werbepassage der „Gamescom“: „endless games to explore“.
Setzen auf harmlosere Suchtfaktoren
Mehr vom Gleichen, aber anders – so ließe sich das aktuelle Angebot der Spieleindustrie zusammenfassen: Horror, Shooter und Horror-Shooter, oder aber exotisch gewürzte Schwertspielereien (ein Remake von „Onimusha“ oder das von vielen ersehnte „Ghost of Yotei“, Nachfolger von „Ghost of Tsushima“) mit fantastisch-bizarren Elementen dominieren auch in diesem Jahr den Markt. Selbst ausgezeichnete Veteranen wie Ron Gilbert („Maniac Mansion“, „The Secret of Monkey Island“) setzen auf harmlosere Suchtfaktoren statt auf Sprachwitz und Weltenbau: In „Death by Scrolling“ läuft der Spieler dem Sensenmann davon und sammelt Gold und Gegenstände, um am Ende eines jeden Levels den Fährmann bezahlen zu können. Ein Fest für den Dopamin-Haushalt, weniger für die Sehnsucht nach Räuberpistolen.
Dafür wiederum könnten zumindest die Entwickler von ZA/Um sorgen. Ein Studio, das mit dem Videospiel „Disco Elysium“ im Jahr 2019 ein vor allem durch den Einsatz von auf Sushimesserschärfe geschliffener Sprachlust überzeugendes Debüt schuf. Obgleich das Studio hernach von seinem Erfolg zerrissen wurde, hoffen Fans, dass es im neuen Spionage-Rollenspiel „Zero Parades (for fake radicals)“ ähnlich weltbewegend zugeht.
So wagte die „Gamescom“ denn auch einen kleinen politischen Einschub: Jörg Friedrich von Paintbucket Games will auch das neueste Spiel seines Studios „The darkest Files“ über das Wirken des Anwaltes Fritz Bauer vorstellen und klar machen, dass Videospiele mehr sein sollten als reine Unterhaltung; dass sie Einfluss auf das Demokratieverständnis der Spieler haben.
Das versucht auch eine pünktlich zum Start der „Gamescom“ veröffentlichte Studie der Bertelsmann Stiftung zu belegen, die die „politischen, sozialen und kulturellen Dimensionen von Gaming in Deutschland“ untersucht. Ihre Ergebnisse sind wenig überraschend: Sehr viele Menschen („über zwei Drittel der Menschen in Deutschland ab 16 Jahren“) spielen „digital“. Und trotz trennender Faktoren wie Hassrede und beklagenswerten Umgangstönen in Sprachchats und Foren stiften Videospiele „soziale Nähe und Zugehörigkeit (die allerdings von ideologischer Seite auch ausgeschlachtet werden kann)“. Auch eine steigende Diskursbereitschaft innerhalb der Communities macht die Studie aus – und wenn es nur die ewige Diskussion darüber ist, ob Spiele politisch sein sollten. Dass dies auch nach hinten losgehen kann, zeigt die Erkenntnis, dass sich menschenfeindliche Einstellungen bei jungen männlichen Befragten häufen. Hier zeigten sich „signifikant höhere Zustimmungswerte zu antisemitischen, sexistischen und queerfeindlichen Aussagen als (bei) andere(n) Spieler:innen-Typen“.
Besonders traurig ist diese Erkenntnis: Die Vorurteile, die „Nichtspielende“ gegenüber den „Gamern“ (in Sachen Hygiene, Bildung und Sex) hegen, sind derart verbreitet, dass Videospieler diese „trotz positiver eigener Erfahrungen mit Gaming“ übernähmen und in ihr Selbstbild integrierten.