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The Weather Station – »Humanhood«
Sich losgelöst von seinem Körper und Geist fühlen, entfremdet von der Realität, wie sie sich zurzeit darbietet – das ist ein Zustand, den wahrscheinlich viele von uns gerade nachempfinden können. Wenn es ernst wird, nennt die Psychologie diese Symptomatik eine Depersonalisations-/Derealisationsstörung.
Daran litt die kanadische Musikerin Tamara Lindeman ausgerechnet, als ihr mit »Ignorance« 2021 der Durchbruch gelungen war. Das von der Kritik gefeierte Album verschränkte auf unwiderstehliche Weise Meditationen über den Klimawandel mit persönlichen Beziehungsfragen vor der Kulisse eines einzigartigen, umarmenden Sounds.
»Humanhood« erzählt nun, wie sich Lindeman allmählich wieder mit der Welt und sich selbst versöhnt hat. Nimmt man »Ignorance«, dessen abgründiges, 2022 erschienenes Ergänzungsstück »How Is It That I Should Look at the Stars« und das nun siebte Album von The Weather Station zusammen, ergibt sich daraus eine berührende, musikalisch weit ausgreifende Trilogie über das gestörte Verhältnis zwischen Mensch und Natur, in der sich auch Lindemans persönlicher Kampf mit sich selbst und den Beziehungen zu sich selbst und ihrer Umgebung spiegelt.
»Humanhood«, der flatterige, ergebnisoffene, vor Hoffnung und Ungewissheit bibbernde und bebende Abschluss, ist ein früher Höhepunkt dieses Popjahres.
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Seit 2006 spielt die ehemalige Rom-Com-Schauspielerin Lindeman (ehemals Tamara Hope) mit ihrer Band einen oft ätherischen, dann wieder kräftig zupackenden Folk-Pop, der an den Sound von Talk Talk aus den Achtzigerjahren erinnert, manchmal auch an Fleetwood Mac, vor allem aber an Joni Mitchell, denn an das Übervorbild aller Folksängerinnen lehnt sich Lindeman mit ihrem Gesang.
Spätestens seit »Ignorance« hat sich The Weather Station jedoch als eigenständige Größe etabliert, selbst wenn sich die Musik vehement einer Genre- oder Stil-Zuordnung verweigert. Auf »Humanhood« spielt nun erstmals auch das neue Bandmitglied Karen Ng mit, eine Experimentalmusikerin und Saxofonistin aus Toronto, die Lindemans Songs einen noch eindeutigeren Zug zum Jazz verleiht.
Dazu passt, dass Lindeman in ihrem psychisch angeschlagenen Zustand zunächst gar nicht wusste, wie sie ein neues Album schreiben sollte. Es gab keinen Plan, keine Struktur und kaum fertige Songs, als sie mit der Band ins Studio ging, sagte sie in einem Interview .
Nach und nach setzen sich Teile zusammen wie bei der Patchwork-Steppdecke, die dem letzten, dem Schlüsselsong »Sewing« sein Motiv gab: Wie die durch Menschenhand angerichteten Umweltschäden, darunter der Klimawandel, so ist auch die Seele des vom Leben gebeutelten Individuums nicht mehr in den Werkszustand der Unschuld zurückzuversetzen. Man kann nur Flicken einnähen, wo die größten Löcher zwischen Schönheit und Schuldgefühlen klaffen.
»Humanhood« ist also ein Selbstheilungsalbum, das immer wieder in dahingleitenden, scheinbar flüchtigen Klavier-Arrangements nach Erhabenheit, Klang-Perfektion und Transzendenz sucht. Zunächst noch als entfremdeter Zombie und lebendiger Automat in der digitalisierten Kunstwelt der Popsong-ähnlichen »Neon Signs« und »Mirror«, später offener, tastender, experimenteller, schwebender in »Body Moves«, »Ribbon« und »Fleuve«.
In den Hintergrund der voluminösen und orchestralen Wohlklang-Wucht mischt Lindemans Band eine Vielzahl elektronischer, irritierender Störgeräusche wie einen posttraumatischen Tinnitus. Mal ist es ein mechanisches Schaben in »Window«, mal ein schnarrendes, lauter und leiser werdendes Drone-Geräusch in »Irreversible Damage« – das ohnehin nur aus Fetzen von Therapiegesprächen zu Free Jazz besteht.
Pop- oder Rockmusik ist »Humanhood« an dieser Stelle schon lange nicht mehr. Aber diese Art der Losgelöstheit ist ausnahmsweise okay. (8.5/10)
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Kurz Abgehört:
Turbostaat – »Alter Zorn«
Die schlecht gelaunten Männer mit den dröhnenden Gitarren kommen ja meistens eher aus dem Norden, ne? Turbostaat aus Husum sind für die deutsche Musiklanschaft seit nun rund 25 Jahren das, was Mogwai aus dem schottischen Glasgow für Großbritannien sind: eine Postrock-Instanz, die komischerweise immer noch dem schnöden Punkrock zugerechnet wird.
Nach Ausflügen in die »Uthlande« und ins plattdeutsche Idiom ihrer Heimatregion Dithmarschen haben Gitarrist/Texter Martin Ebsen und Sänger Jan Windmeier wieder die eher urbane Tristesse der Gegenwart im Blick: Das miesepetrige »Jedermannsend« hat zwar maritime Motive, wenn dem Protagonisten im Songtext mit stinkender Impertinenz ein »Schiss im Meer« hinterherschwimmt, das Video wurde aber am Kotti in Kreuzberg gedreht. In Berlin wohnt auch Band-Intimus und Produzent Moses Schneider, der nicht nur Tocotronic den guten Sound bereitet, sondern seit Langem auch Turbostaat. Schneider ist, mit einem fröhlichen Foto aus früherer Zeit, auch auf dem Album-Cover zu sehen. Aber zu lachen gibt es hier eigentlich wenig, außer man amüsiert sich über Windmeiers breiten, norddeutschen Dialekt, den er natürlich auch gerne zelebriert. Mit stahlgrauen Regenschauern aus Gitarrenakkorden geht es auf dem Album recht flott durch einen Morast aus altem Zorn und neuem Pessimismus.
Höhepunkt und Hit des Albums ist »Scheissauge«, in dem sich bei einem eher unromantischen Date der »Stillstand tief in ihrem Gesicht« manifestiert und aus »Fifty Shades of Grey« 50 Wörter für Grau werden. Vertonter Nieselregen. (7.0/10)
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Ela Minus – »Día«
Die aus Kolumbien stammende Musikerin Gabriela Jimeno Caldas ist eine furchtlose Entdeckerin der modernen elektronischen Musik. Das zart zirpende, forschend lauter werdende Anfangsstück ihres zweiten Albums heißt »Abrir Monte«, was auf Spanisch so viel heißt wie »öffne den Berg« – ein Ausdruck, den Caldas aus ihrer Kindheit kennt, wenn Leute aufbrachen, einen Pfad durch den Dschungel zu schlagen. Um nichts anderes, einen Pfad von düsterer Depression zur Gemütserhellung zu bahnen, geht es auf »Dìa«.
Caldas ist eine am Berklee College ausgebildete Jazz-Drummerin, die früher in einer kolumbianischen Hardcore-Rockband spielte. Heute baut sie für ihre eigene Musik, aber auch für Musiker wie Jack White, Analog-Synthesizer und andere elektronische Instrumente, was oftmals einen einzigartigen Sound ergibt.
Auf ihrem beklemmenden Debüt lotete sie 2020 noch die Schatten und Tiefen der Techno- und Clubmusik aus, jetzt strecken sich nun selbst ambivalent betitelte Tracks wie »Broken« mit beschwingten Beats nach Heilung und Harmonie. Dabei gelingen ihr ambitionierte Björk-Skulpturen wie »IDK«, aber auch tolle, zum Licht drängelnde Indie-Dance-Hymnen wie »Upwards«. (7.7/10)
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Jasmine.4.t – »You Are The Morning«
Der US-Songwriter Elliott Smith, 2003 verstorben, wird immer noch schmerzlich vermisst. Dann und wann wachsen Künstler oder Künstlerinnen nach, deren Vortrag so sehr an Smith erinnert, dass es wehtut, aber auch sehr tröstlich ist. Zumal, wenn die Songs dazu auch noch gut sind.
So ist es beim Debüt-Album der britischen trans Frau und Sängerin Jasmine.4.t. Es braucht nur eine kompetent gezupfte akustische Gitarre und ein paar hymnisch gesungene Verse, wie in »Kitchen«, schon breitet sich jene warme Küchentisch-Stimmung aus, die Robert Habeck so gerne in seinen Insta-Videos erzeugen möchte, aber nicht hinkriegt. Natürlich ist dieser Smith-Sound auch nostalgisch und führt direkt in die Neunzigerjahre, wohin ja gerade viele wieder nostalgisch zurückblicken ob des rechten Backlashes und der politischen Ödnis.
Jasmine.4.t. steht allerdings für die größtmögliche Diversität der Gegenwart und erzählt in ihren dann doch auch abwechslungsreicheren Kitchen-Sink-Dramen (»Elephant«, »Guy Fawkes Tesco Dissociation«, »New Shoes«) so amüsant wie berührend von der turbulenten, oft peinlichen, immer ermächtigenden Zeit ihrer Transition.
Zuvor, 2018, war Jasmine Cruickshank mit US-Sängerin Lucy Dacus auf Tour, die dann später ihre Boygenius-Kolleginnen Julien Baker und Phoebe Bridgers kennenlernte. Das Superstar-Rocktrio hat nun gemeinsam »You Are The Morning« produziert: ein queersolidarischer Ritterinnenschlag – und ein verdammt gutes, sensibles Songwriter-Album. Vielleicht hört Elliott Smith ja im Himmel davon. (7.8/10)
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Wertung: Von »0« (absolutes Desaster) bis »10« (absoluter Klassiker)