Herr Tuymans, der Freskenzyklus „L’Orphelin“ ist nicht Ihr erstes temporäres Kunstwerk. Es wirkt allerdings wie eine Provokation, ausgerechnet im Louvre etwas Vergängliches zu erschaffen, einem Ort, der wie kein anderer für die Bewahrung ewiger Meisterwerke steht.
Es ist eigentlich die Beute Napoleons, zusammengestohlen auf der ganzen Welt. Aber klar, es war eine Herausforderung. Ich muss hier auch drei Führungen machen.
Das ist Teil Ihres Vertrags mit dem Louvre?
Ja, ein Missbrauch. 10.000 Euro für das gesamte Projekt sind verdammter Missbrauch.
Sie erhalten 10.000 Euro pro Führung?
Nein, für den ganzen Scheiß. Einschließlich Materialkosten. Ich habe schon Führungen durch den französischen und flämischen Teil der Gemäldesammlung gemacht. Heute Abend geht es um die Lücken dazwischen – Frans Hals, Rembrandt, die nordischen Maler, Caspar David Friedrich und so weiter.
Beim Betreten der oktogonalen Rotunde, in der Ihre Wandbilder sind, hatte ich den Eindruck, dass Sie dort Ihre Rothko Chapel gefunden haben.
Wissen Sie, als Belgier in Paris ist man immer der kleine Belgier. Weil es in Frankreich aber keine Maler mehr gibt, haben sie ein Problem. Ich habe mir diesen achteckigen Raum ausgesucht, weil er mich an Jeremy Benthams Panopticon-Gefängnis erinnert. Es gibt Öffnungen in verschiedene Richtungen. In der einen geht es zu den Franzosen, in der anderen zu den Flamen und Niederländern. Die Rotunde ist also ein Kreuzungspunkt. Früher hingen hier Poussins „Vier Jahreszeiten“, was offenbar zu langweilig war, weshalb man sie durch Werke von Valentin de Boulogne ersetzt hat.
Das kontrastreiche Hell-Dunkel seiner Malerei scheint die Komposition Ihrer Fresken inspiriert zu haben.
Es sind die gleichen Farben. Weil bei der Entfernung der Wandbilder keine Rückstände in die Lüftung geraten dürfen, musste ich mit einem speziellen Medium arbeiten. Ich habe eine Theaterfarbe entdeckt, die unter Sonneneinstrahlung innerhalb eines Jahres verblasst.
Die Idee des Verschwindens ist also . . .
. . . schon Teil der Geschichte, genau. Ich habe das im Atelier ausprobiert und dann die Leute vom Louvre kommen lassen und ihnen gezeigt, dass sich alles problemlos mit weißer Farbe übermalen lässt. Zum ersten Mal hat jemand direkt auf die Wände des Louvre gemalt. Früher war er auch eine Schule, deshalb ist es nicht ohne Belang, dass der Akt des Malens dorthin zurückgetragen wurde.
Drei der Wandbilder erinnern an Ihr Diptychon „Gloves“ von 2021, auf dem Fragmente einer behandschuhten Figur zu erkennen sind.
Ja, auch sie basieren auf dem Video eines neuseeländischen Malers, das ich auf Youtube gefunden hatte. Seine Bilder waren schlecht, aber es hat mich interessiert, wie er die Palette reinigt. Ich wollte, dass im Betrachter allein schon aufgrund der Größe ein Gefühl der Desorientierung entsteht. Man erkennt Hände und eine Schürze mit roten Flecken, die fast wie die eines Chirurgen aussieht, was dem Ganzen etwas Gewalttätiges verleiht. Anfangs ging es fast nur um die Abstraktion, aber dann bekam ich Probleme mit den Leuten vom Louvre, die unbedingt eine Verbindung zum Museum haben wollten. Ich erinnerte mich an ein kleines Gemälde, das ich 1990 gemalt hatte und das verschollen ist. Es hieß „The Orphan“ und zeigt den Hinterkopf einer Käthe-Kruse-Puppe aus den dreißiger Jahren. Ich hatte ein Foto des Werks, so dass ich es vergrößern konnte. Der Kopf ist jetzt am Hals durch den Bildrand abgetrennt, was die Verbindung zum Louvre herstellt. Als man die Guillotine in Betrieb nahm, wurde er ein öffentlicher Ort.

1990 entstand auch „The Body“, eines Ihrer ikonischen Werke, in dem die Pinselstriche wie Schnitte durch einen Puppentorso gehen. Ist Malen für Sie ein gewalttätiger Akt?
Malen ist für mich eine Sache des Timings und der Präzision, sodass das Element der Gewalt weniger in der Konzeptualisierung liegt als im malerischen Akt.
Was ist daran das Gewalttätige?
Es handelt sich um einen getriggerten Moment. Während ich male möchte ich nicht an die Leinwand oder, wie in diesem Fall, an die Wand denken. Es geschieht vorsätzlich, in gewisser Weise wie ein Mord. Wie eine Hinrichtung, die sehr schnell, teils mit verbundenen Augen, vollzogen wird. Ich beginne mit den helleren Stellen, und obwohl ich weiß, was ich tue, sehe ich nichts, bis der erste Kontrast ins Bild kommt und alles zusammenfällt. Der Gedanke dahinter ist, dass ich es nicht mit dem Kopf mache, sondern dass die Intelligenz in meine Hände geht. Es ist also eine andere, eine körperliche Intelligenz.
Auf einem Foto, das Sie während der Arbeit an „L’Orphelin“ zeigt, tragen Sie eine orangefarbene Weste und einen Schutzhelm wie auf einer Baustelle.
Sie müssen wissen, der Louvre ist ein sehr bürokratisches System. Wenn man hier sowas macht, kommt zuerst die Armee, dann die Anti-Terror-Einheit, dann die Feuerwehr, und sie alle haben das Recht und die Macht, alles abzublasen. Es gibt also Regeln, die es einzuhalten gilt. Man muss sich einen Helm aufsetzen, was ich normalerweise nicht tue.
Dass Ihr Werk Ende Mai übermalt und verschwinden wird, ist wie eine Metapher der Zeitlichkeit.
Das Schöne ist, dass die Menschen, die es gesehen haben werden, sich daran erinnern werden. Ich finde es interessant, dass die Erinnerung in die Wand eingearbeitet ist, das macht das Projekt besonders. Das ist auch der Grund, weshalb es keine Rothko Chapel ist. Dort sitzen die Leute im Lotussitz und versuchen, zu meditieren. Rothko wollte, dass die Leute vor seinen Bildern weinen, was lächerlich ist. Das ist eine Art von Romantik, mit der ich nichts anfangen kann. „L’Orphelin“ ist sehr sachlich. Ich entstamme einer Genealogie von Malern, die mit van Eyck beginnt und sich mit dem Realismus auseinandersetzt. Wir Flamen waren im Laufe der Geschichte so vielen fremden Mächten unterworfen, dass wir keine Zeit hatten, so rational wie die Franzosen oder so emotional und romantisch wie die Deutschen zu werden. Wir mussten verdammt noch mal überleben, und deshalb sind wir bildlich gesehen in einem anderen Raum.
Ist es von Bedeutung, dass „L’Orphelin“ achtzig Jahre nach Kriegsende zerstört wird?
Ihre Arbeiten zum Holocaust und der europäischen Kolonialgeschichte haben uns gelehrt, Ihr Werk im historischen Kontext zu betrachten.
Man muss es nicht mit der Geschichte in Verbindung bringen. Geschichte ist immer da, sie ist wie die Politik. Jede menschliche Handlung ist politisch. Das ist eine Gegebenheit, so wie das Licht, mit dem man arbeitet.
Als Sie 1990 „The Orphan“ malten, war die Welt im Umbruch.
Die Menschen lebten in einer Blase. Der Blase mit Clinton und so weiter.
Es war ein Moment der Hoffnung . . .
. . . es war der Moment des größten geopolitischen Fehlers, den der Westen je begangen hat. Wir haben Russland unterschätzt und ein Gefühl der Demütigung erzeugt, das sich jetzt bitter rächt.
War Ihnen das damals schon klar?
Ein amerikanischer Politikwissenschaftler, sein Name ist mir entfallen, hatte davor gewarnt. Heute erleben wir die Folgen.
Francis Fukuyama sprach damals vom „Ende der Geschichte“.
Was naiv war.
Es war die Zeit der Hoffnung, dass sich nach dem Ende des Kalten Kriegs eine unipolare Weltordnung durchsetzen würde.
Was nicht mehr der Fall ist. Das wäre allerdings auch ohne Trump so gekommen. Die Unipolarität ist zu kostspielig und kann nicht funktionieren. Es ist also normal, dass wir zu einem anderen System übergehen, aber ich wünschte, es würde auf vernünftige Weise geschehen und nicht wie jetzt gewaltsam.
Waren Ihre während der Corona-Pandemie entstandenen Polarisierungs-Bilder, in denen Sie auf die zunehmende politische Spaltung der USA zwischen 1951 und 2011 zurückblicken, zukunftsweisend?
Nein. Mauro Martino, auf dessen Datenvisualisierung die Gemälde basieren, hat 2015 eine Studie gemacht, wie das Repräsentantenhaus in den Jahren von Harry Truman bis Barack Obama abstimmte. Auf den Bildern sind blaue und rote Punkte, also Demokraten und Republikaner, und je mehr Grau dazwischen ist, desto weniger Polarisierung gibt es. Unter Obama war alles schon völlig im Arsch. Die Polarisierung ist das Hauptproblem, sie führte zu einer echten Konfrontation. Meine Bilder wurden zuerst in Paris gezeigt, aber ich verkaufte sie nicht an die Franzosen. Ich wollte, dass sie in einem amerikanischen Museum landen. Sie befinden sich nahe Washingtons im Glenstone Museum.
Sie haben seitdem auch ein simuliertes Porträt von Putin gemalt.
Aber ich habe es noch nirgends gezeigt.
Weil ihm zu viel Bedeutung beigemessen wird. Als ich 2020 Bilder malte, die von der Pandemie handeln, ahnte ich schon, dass ihr wirklich schlimme Nachbeben folgen würden. Ich bin direkt zu „Polarisation“ übergegangen und war überzeugt, es würde Krieg geben. Wenn man die russischen Einmischungen der vergangenen fünfundzwanzig Jahre betrachtete, war es leicht, sich vorzustellen, woher dieser Krieg kommen würde. Deshalb habe ich die Simulation von Putins Kopf gemacht. Es war unmittelbar vor Ausbruch des Krieges. Mich hat sein Gesicht vor allem deshalb interessiert, weil es sich um ein mittelalterliches Gesicht handelt. Seine Nase erinnert mich an den Typen auf van Eycks „Arnolfini-Hochzeit“.
George W. Bush hat Putin auf Basis eines Wikipedia-Fotos gemalt.
Seine Porträts sind irgendwie lustig, besonders die von seinen Hunden, eigentlich gar nicht so schlecht. Man dachte, George W. Bush sei der Schlimmste, aber es kann immer noch schlimmer kommen. Die Leute damals waren Kriminelle, aber das jetzt ist was ganz anderes.
Vor einigen Monaten wurde in Beijing Ihre Retrospektive „The Past“ gezeigt. Wie haben Sie die chinesische Gegenwart erlebt?
Ich hatte dort schon während der Amtszeit von Hu Jintao gemeinsam mit Ai Weiwei eine Schau kuratiert. Der Direktor des National Art Museum of China, ein Apparatschik namens Fan Di’an, wollte damals eine große Schau über mich machen, aber wegen der Verbindung zu Ai Weiwei und der Situation nach Xi Jinpings Wahl zum Präsidenten, kam sie nicht zustande. Die Retrospektive wurde um fünfzehn Jahre verschoben, aber am Ende haben wir es geschafft. Die Ausstellung durchlief vier Zensurrunden, mein Vortrag an der Uni wurde von der Polizei begleitet. Wir haben das alles umschifft, weil ich die Chinesen irgendwie mag. Sie sind äußerst widerstandsfähig. Sie haben die Eisenbahn in den USA und im Kongo die nach Matadi gebaut. Es ist eine 5000 Jahre alte Kultur, sehr grausam. Ich habe mich ihr immer verbunden gefühlt, da ich selbst aus einem jungen Land stamme und wir in Belgien sehr auf das Individuum achten, nicht auf die Gruppe. Aber ich weiß nicht, wie sich die Dinge weiterentwickeln werden, denn wir sprechen hier über eine äußerst komplexe Situation und natürlich auch über Egos. Diese Leute sind alle über siebzig, zwei von ihnen sind Autokraten . . .
. . . und der dritte möchte König von irgendwas sein – keine Ahnung wovon.
Donald Trump, König der Vulgarität.
Ja, aber diese Dinge sind eher irrational und nicht wirklich wichtig. Wir haben eine extreme Klimakrise, die ein Hauptproblem ist, das durch all die anderen Missgeschicke, die geschehen, in den Hintergrund gerät, und wir reden noch nicht einmal von Netanjahu. Für einen normalen Menschen, der klar zu denken versucht, ist das alles unverständlich.
Sie haben einmal gesagt, „die Vorstellung von Angst“ sei Ihrer Persönlichkeit eingeschrieben.
Es handelt sich eher um den Minderwertigkeitskomplex meiner Mutter.
Ist er mittlerweile weggemalt?
Nein, er ist noch immer da.
Wie leben Sie in unserer Gegenwart?
Das Wichtigste ist, dass man die Integrität der Arbeit bewahrt und weiter macht. Als nächstes kommt eine Schau in Los Angeles mit riesigen Bildern mittelalterlicher Manuskripte, weil wir ins Mittelalter zurückkehren sowie mit dem riesigen Gemälde eines Obstkorbes, der völlig vergoren ist, mit verfaulten Früchten. Außerdem gibt es Porträts von Amerikanern in 3 D. Die Schau wird „The Fruit Basket“ heißen. Uns wird das Lächeln vergangen sein, wenn sie eröffnet.
Luc Tuymans, „L’Orphelin“ ist noch bis 26. Mai im Pariser Louvre zu sehen. Die Übermalung erfolgt gleich anschließend.