„Tatort“ aus Franken: Kein Mensch ist so gut

vor 2 Tage 5

Es gibt nur wenig Licht im flüsterleise dahingehauchten Nürnberger „Tatort: Ich sehe dich“ – aber manchmal und plötzlich sehr viele „Beats pro Minute“. Schon als Kommissar Felix Voss (Fabian Hinrichs) ungelenk aus der Dusche steigt und zum Fundort eines Skelettes geklingelt wird, arbeitet der Filmkomponist Diego Noguera auf Herzstolperlänge mit rabiater Technomusik. Ein schärferer Kontrast zu dem stillen Klangteppich, den Noguera ansonsten auslegt, und den Szenen ganz ohne Musik ist schwerlich vorstellbar. Ein Gefühl der Angst schleicht sich ein. Ein Gefühl, jederzeit überfallen werden zu können. Es ist das Gefühl, das viele Gewaltopfer ewig begleitet.

Einstieg wie im Schweden-Krimi: Eine Leiche, verpackt und verschnürt, wird über matschigen Boden gezerrt. Was von ihr übrig ist, wird zwei Jahre später durch einen Zufall gefunden. Grelle Scheinwerfer erhellen die waldige Umgebung, und wenig deutet darauf, dass der Fahrradhändler Andreas Schönfeld (Benjamin Schaefer) aus keinesfalls legitimen, aber doch nachvollziehbaren Gründen mit einem Hammer erschlagen wurde.

War er wirklich ein kreuzbraver Kerl?

Schönfeld scheint ein kreuzbraver Kerl gewesen zu sein, wie auch der Tote im vorletzten Fall „Warum“ ein guter Mensch war und auch der Kommissar Voss, der jetzt zum ersten Mal ohne die pensionierte Paula Ringelhahn (Dagmar Manzel) ermitteln muss, ein solcher zu sein versucht. Das Profil des Toten, das sich durch Büroarbeit und Gespräche mit seiner Mutter (kleiner Auftritt, große Wirkung: Marion Reuter) und einer Kurzzeit-Verlobten (Lisa Oertel) allmählich abzeichnet, versetzt Voss allerdings in eine innere Unruhe.

Schönfeld scheint ihm eine undurchdringliche „Mauer des Guten“ um sich errichtet zu haben: „Kein Mensch ist so gut, dass er immer nur an andere denkt.“ Er verlor früh seinen Vater, sang im Kinderchor der Gemeinde. Voss und Goldwasser (Eli Wasserscheid) finden heraus, dass es kein Sexualleben des Erwachsenen gab. Jedenfalls nicht mit Frauen wie jener, die er kurzzeitig heiraten wollte. Die Ermittler beginnen einen Menschen zu sehen, der selber Gewalt ausgeübt haben könnte, bevor er beim Spiel eines verstimmten Klaviers, eine Improvisation über Schumanns „Träumerei“ (Benjamin Schaefer ist eigentlich Jazzpianist), zum Mordopfer wurde.

„Dass Du hier sitzt, das ist Glück“

Der dunkle psychologische Thriller „Ich sehe dich“, wieder geschrieben von Max Färberböck und Catharina Schuchmann, die 2015 den Franken-„Tatort“ erdachten und etliche Folgen verfassten, jongliert allerdings nur eine Weile mit der Frage, wer den netten Andi erschlug. Im Vordergrund steht, wie er anderen Menschen die Seele zerkratzte. Weshalb es ein zweites Erzählgleis gibt. Parallel zu den Ermittlungen, die gespenstisch ansetzen und am Ende hastig werden, um den Zug auf Gleis zwei noch zu kriegen, treten eine blinde Frau (Mavie Hörbinger) und ihr kultivierter Geliebter (Alexander Simon) auf. Erstgenannte muss wohl ein Opfer von Schönfeld sein, der Partner womöglich ihr Rächer. Sie haben beide eine verhaltensauffällig bedächtige Art und sprechen wie in Trance: „Was bedeutet das eigentlich: Glück?“ Philosophie heute. „Dass ich jetzt in die Küche gehen kann und du hier sitzt, das ist Glück.“

„Tatort: Ich sehe dich“ARD Presseservice

Den Vogel in Sachen Bedächtigkeit schießt der Fahrer ab, den der schulterkranke Voss verordnet bekommt: Fred vom Archiv (borstig gespielt vom Passauer Kabarettisten Sigi Zimmerschied) arbeitet Teilzeit und muss sich kurz vor der Rente nicht mehr auf Trab bringen lassen. Er bewegt sich wie das Faultier in „Zoomania“, lehnt rauchend am Auto, wenn Voss zu einem Termin aufbricht, wirft Stoffel-Kommentare ein wie: „Dieses ewige Du, das geht mir so was von auf den Sack.“ Mit anderen Worten: Er hat das Zeug zum Publikumsliebling.

Ein Ersatz für Ringelhahn ist dieser Fred nicht. Der wird erst in der nächsten Folge erscheinen, in Person einer von Rosalie Thomass gemimten Kommissarin, die weit jünger als Felix Voss ist. Zwingend nötig ist es nicht. Das Team in „Ich sehe dich“ arbeitet auch ohne Ringelhahn routiniert miteinander, Goldwasser gewinnt an Statur.

Manches gerät zu theatralisch in diesem trostlosen Stück. Der Tote muss seiner Mutter konkret vor Augen erscheinen, der Horror dem Verbrechensopfer als Albtraum, Voss immerzu grübeln und erschüttert sein. Bestechend ist die Atmosphäre, die Max Färberböck, der bald seinen 75. Geburtstag feiert, auch diesmal wieder als Regisseur der von ihm und Schuchmann verfassten Geschichte zustande bringt. Geprägt wird sie auch von der Kamera Daniela Knapps, die nah an die bleichen Gesichter heranrückt, dunkle Drohnenperspektiven von Nürnberg liefert, dunkle Keller durchschleicht und uns mit Kniffen wie dem Einsatz einer Weißblende der Welt entrückt. Von jetzt an ist dann wohl Herbst.

Der Tatort: Ich sehe dich läuft am Sonntag um 20.15 Uhr im Ersten.

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