Strafverteidiger Johann Schwenn im Kinder-Interview: »Mörder sind nicht immer schlechte Menschen.«

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DEIN SPIEGEL: In Büchern und Filmen werden Strafverteidiger oft als schmierige Typen dargestellt, die bösen Leuten helfen. Was denken Sie darüber?

Schwenn: Manchmal stimmt das. Aber die Gerichtsverhandlungen in Filmen lehnen sich an das Strafverfahren in den USA an. Dort sind die Rollen vor Gericht klar verteilt: Der Verteidiger wendet sich an die Geschworenen, also an Laienrichter. Dazu geht es in Filmen fast immer nur um Freispruch oder Verurteilung. Die Wirklichkeit sieht anders aus.

DEIN SPIEGEL: Wie denn?

Schwenn: Bei unseren Strafgerichten gibt es Laien – sie werden Schöffen genannt – nur in den unteren Instanzen, also beim Amtsgericht und beim Landgericht. Sonst haben wir Verteidiger es immer mit Berufsrichtern zu tun. Nur bei weniger bedeutenden Verfahren sind die Schöffen in der Mehrheit. Und dem Verteidiger geht es nicht immer um einen Freispruch. Nicht alle unsere Mandanten sind unschuldig. Aber oft gibt es Umstände, die für eine milde Strafe sprechen und die das Gericht und der Staatsanwalt nicht gekannt haben oder für unwichtig halten. Die bringen wir dann vor.

Schwenns bekanntester Fall ging im Jahr 2011 mit dem Freispruch seines Mandanten Jörg Kachelmann aus. Im ganzen Land hatten Medien über den Prozess berichtet

Schwenns bekanntester Fall ging im Jahr 2011 mit dem Freispruch seines Mandanten Jörg Kachelmann aus. Im ganzen Land hatten Medien über den Prozess berichtet

Foto: REUTERS

DEIN SPIEGEL: Wir haben gelesen, dass Sie vor allem Schwerverbrecher verteidigen.

Schwenn: Das stimmt nicht. Strafverteidiger übernehmen alle möglichen Fälle, vom Fahren ohne Fahrerlaubnis bis zum Mord. Wer diese Arbeit fast 50 Jahre macht, so wie ich, hat natürlich auch in schwereren Fällen verteidigt.

DEIN SPIEGEL: Warum ist es wichtig, dass alle Menschen eine Verteidigung erhalten?

Schwenn: Gerichte sind nicht unfehlbar. Manchmal werden auch Unschuldige verurteilt. Einer meiner Mandanten war zu einer Freiheitsstrafe von zwölf Jahren und acht Monaten verurteilt worden. Als seine Frau mich um Hilfe bat, war das Urteil längst rechtskräftig, und er hatte fast die Hälfte der Strafe abgesessen. Am Ende wurde er freigesprochen, weil es neue Beweise gab. Das vermeintliche Opfer hatte gelogen. Der Mandant hatte die Taten nicht begangen. Wer so etwas miterlebt hat, dem braucht keiner mehr zu erklären, warum Verteidiger nötig sind.

 Links sitzt der Angeklagte mit seinen Verteidigern Johann Schwenn und Yves Georg, rechts befindet sich die Gegenseite, hinten die Richterin

So sieht es aus, wenn vor Gericht verhandelt wird: Links sitzt der Angeklagte mit seinen Verteidigern Johann Schwenn und Yves Georg, rechts befindet sich die Gegenseite, hinten die Richterin

Foto: Marcus Brandt / dpa

DEIN SPIEGEL: Wieso sind Sie Verteidiger geworden?

Schwenn: Meine Mutter war Richterin. Als ich ein kleiner Junge war, gab sie mich für die Zeit ihrer Sitzungen manchmal bei den Wachtmeistern ab. Weil da immer was los war, wollte ich damals Justizwachtmeister werden. Als ich in eurem Alter war, fing ich an, bei Prozessen zuzuhören. Spannend fand ich, wie die verschiedenen Verteidiger auftraten. Das Interesse an deren Arbeit hat sicherlich zu meiner Berufswahl beigetragen.

DEIN SPIEGEL: Wie sieht Ihr Alltag aus?

Schwenn: Nicht so, wie man es aus dem Kino kennt. Vom Großteil eines Verfahrens bekommt die Öffentlichkeit nichts mit. Oftmals ergibt sich schon während der Ermittlungen, dass der Vorwurf wahrscheinlich falsch ist oder nicht zu beweisen sein wird. Dann kommt es gar nicht erst zu einer Anklage.

Die einen mögen »Tatort«, die anderen »Drei Fragezeichen« oder Sherlock Holmes – fiktive Kriminalgeschichten sind bei jungen und älteren Menschen beliebt. Doch wie läuft die Jagd nach Verbrechern in Wirklichkeit ab? In der neuen Ausgabe von DEIN SPIEGEL, dem Nachrichtenmagazin für Kinder, geht es um die Arbeit von Kriminalkommissaren, Spurensicherinnen und Super Recognizern. Außerdem im Heft: Handball-Nationalspielerin Alina Grijseels spricht über die anstehende Weltmeisterschaft. DEIN SPIEGEL gibt es am Kiosk, ausgewählte Artikel online. Erwachsene können das Heft auch hier kaufen:

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DEIN SPIEGEL: Wie finden Sie ent­lastende Fakten?

Schwenn: Durch Aktenlesen. Immer wieder. Darin lässt sich beinahe immer auch Entlastendes finden, was noch keiner gesehen hat. Und das schreibe ich dann der Staatsanwaltschaft oder dem Gericht. Meine Hauptarbeit besteht darin, zu verhindern, dass der Mandant sich in öffentlicher Hauptverhandlung dem Anklagevorwurf stellen muss.

DEIN SPIEGEL: Also verbringen Sie mehr Zeit in Ihrem Büro als vor Gericht?

Schwenn: Ja. Ich muss viel lesen, nicht nur Akten. Und Besprechungen mit meinen Mandanten gehören dazu. Die kennen ja den Akteninhalt noch nicht und können mir sagen, was davon stimmt und was nicht. Mit den meisten spreche ich in dem Raum, in dem wir gerade sitzen. Wer von ihnen im Gefängnis sitzt, den muss ich da aufsuchen.

Zum Interview trafen Anton (links) und Aki Johann Schwenn in dessen Kanzlei. Die Jungs gehen in die 7. Klasse. Anton ist sich noch nicht sicher, was er nach der Schule werden will. Aki würde gern als Anwalt arbeiten

Zum Interview trafen Anton (links) und Aki Johann Schwenn in dessen Kanzlei. Die Jungs gehen in die 7. Klasse. Anton ist sich noch nicht sicher, was er nach der Schule werden will. Aki würde gern als Anwalt arbeiten

Foto: Maria Feck / DEIN SPIEGEL

DEIN SPIEGEL: Fragen Sie Ihre Mandanten, ob sie schuldig sind?

Schwenn: Natürlich. Es gibt Verteidiger, die das auf keinen Fall wissen wollen. Ich finde das unprofessionell. Je weniger mir der Mandant von dem erzählt, was wirklich geschehen ist, desto schlechter kann ich ihm beistehen. Im Gerichtssaal könnte ich dann Fragen stellen, die für ihn gefährlich sind. Ein berühmter Rechts­anwalt hat einmal gesagt, dass kein Verteidiger eine Frage stellen sollte, auf die er die Antwort nicht kennt. So schwer ist das übrigens gar nicht. Was der Mandant antworten würde, weiß der Verteidiger von ihm. Und bei den meisten Zeugen steht die Antwort in den Akten, weil sie schon von der Polizei vernommen worden sind.

DEIN SPIEGEL: Wie kommen Sie an Ihre Mandanten, rufen die Sie vom Gefängnis aus an?

Schwenn: Manchmal. Häufiger ist es so, dass sie sich kurz nach der Festnahme aus der Polizeiwache melden. Dann geht es aber um schwere Vorwürfe. Bei weniger schlimmen Straftaten lädt die Polizei die Beschuldigten zur Vernehmung vor. Die rufen dann lieber einen Verteidiger an.

DEIN SPIEGEL: Was machen Sie, wenn sich jemand bei Ihnen meldet, der kein Geld für einen Anwalt hat?

Schwenn: Das kommt darauf an, wie schwer der Vorwurf ist und was der Anrufer erzählt. Habe ich den Eindruck, dass er unschuldig sein kann und sich das sogar beweisen lässt, ist es sinnvoll, ein Erfolgs­honorar zu vereinbaren: Wenn dem Anrufer nach seiner Freisprechung wegen der erlittenen Untersuchungs- oder Strafhaft eine Entschädigung zusteht, kann er mich davon bezahlen.

DEIN SPIEGEL: Hatten Sie schon mal ein schlechtes Gewissen, weil ein Schwerverbrecher Ihretwegen eine milde Strafe erhalten hat?

Schwenn: Nein, noch nie – und das nicht nur, weil irgendwer die Strafe für zu milde hält. Aber ich erinnere mich an einen Fall, der schon einige Jahre her ist. Ich wusste, dass der Mandant den ihm vorgeworfenen Mord begangen hatte. Die Beweislage war aber so schlecht, dass die Anklage vom Gericht nicht zur Verhandlung zugelassen worden war. Mich hat danach beschäftigt, ob er weitere Taten begehen wird. Etliche Jahre später hatte ich bei einem anderen Verfahren mit einer seiner Verwandten zu tun und erfuhr, dass er danach ein straffreies Leben geführt hat. Da war ich erleichtert.

DEIN SPIEGEL: Wie fühlen Sie sich, wenn Sie einem Mörder gegenübersitzen?

Schwenn: Nicht anders als sonst. Mörder sind nicht immer schlechte Menschen. Manche töten in einer ihnen ausweglos erscheinenden Lage: Jemand hat seinen an einer unheilbaren, mit Schmerzen verbundenen Krankheit leidenden Partner getötet, um ihm weiteres Leiden zu ersparen. Oder sich nach jahrelangen Misshandlungen durch das Opfer nicht anders als durch dessen Tötung zu helfen gewusst. Wird dabei ein Überraschungsmoment ausgenutzt, ist das ein Mord – egal ob der Täter oder die Täterin dem Opfer keine Todesangst zumuten oder sich selbst vor weiterer Gewalt schützen will. Das rechtfertigt oder entschuldigt solche Taten nicht, aber es erklärt, warum auch Mörder einem sympathisch sein können.

DEIN SPIEGEL: Halten Sie sich als Anwalt immer an alle Regeln?

Schwenn: Ja. Unsere Regeln stehen im Gesetz: in der Strafprozessordnung. Ein Verteidiger, dem deren Vorschriften egal sind, kann nicht dafür sorgen, dass sich das Gericht, der Staatsan­walt oder die Polizei daran halten. Er sollte sich einen anderen Beruf suchen.

Foto: DEIN SPIEGEL

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