Für „Hundert Jahre Zauberberg“ kommt diese Inszenierung ein Jahr zu spät, aber vielleicht hat man sich am Schauspiel Frankfurt gedacht: Sanatorium geht immer. Als Metapher, als Alltagsfluchtpunkt, denn die Welt ist seit der frühen Moderne ja nur noch kränker geworden und braucht dringend Heilung, nicht nur zu Jubiläen, und sei es durch Parodie.
Und singen auf dem Theater geht offenbar auch immer. Ausnahmsweise ohne Lars Eidinger, muss man ja fast sagen, der gerade von Brecht bis Sinatra alles wegsingt, aber dafür mit der ganzen Belegschaft. Das Stück ist gerade ein paar Minuten alt, da singen die Schauspieler schon im Chor an der Rampe: „Dein Schwiegervater ist Vampir / Die Mutter wird schon mal zum Tier / Die Kinder alle Parasiten / Es steigen wieder mal die Mieten / Dein Chef ist einer Gruft entstiegen / Dabei willst Du nur sonnenliegen“.
Zwischen Schwarzwaldklinik und David Lynch
Wir befinden uns in einem „Grusical“, einem Genre also, das angeblich auf „Das Spukschloss im Spessart“ zurückgeht. Hier sieht man mittels Videokunst ein traumhaftes Hochgebirgs-Setting, als der Wagen der Journalistin Lio Laksch aus der Kurve fliegt. Und holterdipolter liegt die zwecks Inkognito-Recherche als Lackleder-Riotgirl Verkleidete (ulkig vertrottelt gespielt von Lotte Schubert) kurz darauf im künstlichen Pool vor der Drehbühnen-Insel des Doktor Klotz.

Wolfram Koch spielt diesen auch hübsch überdreht, mit kastanienfarbenem Toupet und im cremeweißen Lackmantel – als wäre die Schwarzwaldklinik zu einem Spuk von David Lynch mutiert. Solo wird Koch später auch noch singen, zwar nicht rückwärts wie der Zwerg in „Twin Peaks“, aber mit Fistelstimme – doch wir greifen vor.
Die Recherche der Journalistin liefert den dünnen Plot der Auftragsarbeit des 1985 geborenen österreichischen Dramatikers Ferdinand Schmalz, die hier unter Regie von Jan Bosse uraufgeführt wird: Im „Sanatorium zur Gänsehaut“ (zugegeben ein sehr schöner Titel) tummeln sich die Reichen, aber nicht mehr so Schönen auf der Suche nach dem Jungbrunnen. Lio Laksch soll der Pharmaunternehmerin Hannelore Krautwurm-Bouillon auf die Spur kommen, die sich auch in der Einrichtung aufhält, und der falsches Spiel in der Naturheilungsindustrie nachgesagt wird. Dr. Klotz forscht an Nacktmullen, in deren Genen er den Schlüssel zum ewigen Leben vermutet: so weit, so klamaukig.
Wunderheilung in der Flausch-Lounge?
Ideengefechte im Stil von Naphta und Settembrini sind hier nicht zu erwarten – eher wirken die Dialoge manchmal ein bisschen wie Füllmasse in einer Nummernrevue, in der jeder im Ensemble seinen großen Auftritt hat. Anna Kubin als schreckschraubige Frau Krautwurm-Bouillon in einem Fatsuit, das ein Kardashian-haftes Hinterteil wölbt, Melanie Straub als unheimliche Klinikleiterin, Christoph Pütthof als diabolischer Concierge in einem Blumenanzug, Anabel Möbius und Torsten Flassig als neureiches Ehepaar. Möbius spielt eine Beauty-Influencerin, der nach einem Malheur die Haut in Fetzen hängt. In der Flausch-Lounge hofft sie auf Wunderheilung.

Die für die Musik verantwortliche Carolina Bigge ist, ebenfalls kostümiert im bunten Bonbonstil zwischen Sixties und Science-Fiction, die ganze Zeit samt E-Gitarre mit auf der Bühne und begleitet die Songs mit Titeln wie „I Deserve It“ oder „Bademantel“, einmal auch eine Adaption von „Der Jungbrunn“ des Meistersingers Hans Sachs.
An Anspielungen mangelt es hier nicht, es grüßen Dr. Moreau und Dr. No, vielleicht auch Peter Sellers mit seinem „Partyschreck“. Auf dem Papier im Programmheft wird ferner ein Bezug zu George Bernhard Shaws Utopie des Alterns, „Back to Methuselah“ (1922) konstruiert, den sonst vielleicht nicht jeder entdeckt hätte. Der Stückautor Ferdinand Schmalz verweist in einem Begleittext auch auf Einflüsse wie die „Rocky Horror Picture Show“; der Überbau, den er dann noch konstruiert zu „komplexen Problemen der Zeit“, die „keine einfachen Antworten“ verdienen und auch keine „diskursiv aufmagazinierten Dramaturgien“, wird aber trotz anderen dramaturgischen Aufwandes (Katrin Spira, Bühne von Moritz Müller) nicht immer erkennbar. Schon klar: Schmalz möchte kein Leitartikel-Theater, sondern wünscht sich auf der Bühne eine verwirrende und verstörende Geisterbahn. Aber die birgt auch die Gefahr, dass ihre Puppen irgendwann veralten, so sehr sie sich dagegen sträuben.
Immerhin niedlich gruselig
Dieses Grusical kommt, manchmal mit Mühe, da an, wo Kabarett und Chanson vor Jahren oder Jahrzehnten schon waren. Ein Beispiel: Wenn es um die Karikatur von Entspannungsmaximen geht, ist PeterLichts Song „Wettentspannen“ von das Maß der Dinge. Er stammt aus dem Jahr 2008. Heute noch auf einer Theaterbühne Achtsamkeit, Meditation oder Yoga zu parodieren, teils mit abgegriffensten Gesten, fällt aber sogar hinter gängige Fernsehsatire zurück.
Auch nicht so günstig ist der Eindruck, dass hier mit Kanonen auf Spatzen geschossen wird. Ähnlich wie bei der bombastischen Produktion zu Stanislaw Lems „Solaris“ in der Vorsaison werden alle theatralischen Mittel aufgeboten, verstärkt zu Licht-und-Klangschlachten, die aber „eins drüber“ wirken, nicht immer funktional für den Stoff. Dass Doktor Klotz sein Horrorwerk vollendet, führt zu einer Art Walpurgisnacht-Szene, die ohrenbetäubend laut wird, aber etwas erzwungen scheint. Nicht ganz überraschend dann auch, wozu die Nacktmullexperimente führen, aber immerhin niedlich gruselig.
Das bringt einen in eine missliche Lage: Man möchte die Schauspieler loben, amüsiert sich auch teils gut bei den Songs – und ertappt sich doch manchmal bei der Frage: Wann kommt denn mal wieder ein richtiges Theaterstück?