Rembrandts Goldenes Zeitalter? Amsterdam sehen und nach sechs Wochen sterben

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In dieser Ausstellung spielen Umbetonungen die zentrale Rolle. In „Rembrandts Amsterdam. Goldene Zeiten?“ geht es vor allem um das zweite Wort, die Stadt; der ungebrochen populäre Name des Meisters der psychologisierenden Einfühlung – dem aktuell auch Schauen in Wien und Leipzig gewidmet sind und dem vor drei Jahren die letzte im Städel ausgerichtet wurde – wird genutzt, um zwei Aspekte abzudecken: Rembrandts Wirken in Amsterdam – das nicht seine Geburtsstadt ist – umspannt genau die Jahrzehnte des sogenannten goldenen Zeitalters, das, wie der Ausstellungstitel durch das Fragezeichen signalisiert, nur für einige wenige wirklich golden war und das Rembrandt mit der gewaltigsten Fallhöhe aller Künstler in Amsterdam porträtierte: unfassbar reiche Kaufleute neben Kranken, Irren und Bettlern in der Gosse, die oft bis heute namenlos blieben, obszöner Luxus und Ungleichheit, Macht und Ohnmacht.

Tatsächlich von Rembrandt aber stammen die wenigsten Bilder der Ausstellung, vielmehr von den gleichermaßen exzellenten Schülern Ferdinand Bol, Govert Flinck, Jan Victors, aber auch von Bartholomeus van der Helst oder Nicolaes Pickenoy. Die sind letztlich sogar spannender, weil die Kuration der Schau über manchen Umweg den bislang Anonymen in deren Hintergründen doch noch eine Vita oder Namen zuweisen kann. Das funktioniert insbesondere durch das „holländische Gruppenbildnis“, das in seiner kanonischen Form eine Amsterdamer Erfindung ist. Kein anderes Museum der Welt verfügt daher über mehr Gruppenbildnisse des Barocks als das Amsterdam Museum. Dieses wird die nächsten Jahre saniert und hat daher eine erstaunliche Anzahl seiner Hauptwerke nach Frankfurt entliehen. Es ist ein außerordentlicher Glücksfall, dass das Städel nach jahrelanger „Wühlarbeit“ von nun an diese Schätze mit zusätzlichen internationalen Leihgaben von New York bis Warschau und dem eigenen guten Bestand an Gemälden und Druckgrafiken Rembrandts, die schon der Museumsgründer fleißig sammelte, zusammenbringt.

Das „holländische Gruppenporträt“ bildet die Bürger ab

Was aber ist dieses ominöse „holländische Gruppenporträt“ eigentlich, dem einer der wichtigsten Kunsthistoriker der Jahrhundertwende, Alois Riegl, eine epochale Studie gewidmet hat? Es wird durch die besonderen Bedingungen der zutiefst bürgerlich und protestantisch geprägten Handelsstadt Amsterdam verständlich. Die Stadt, die 2025 ihr 750. Jubiläum feiert, stieg in Rembrandts Zeit raketenhaft vom Fischerdorf zur Welthandelsmetropole und zu einer der größten Städte Europas auf. Auf dem imposanten Stadtplan Nicolaes Visschers im ersten Saal aus dem Besitz des Landgrafen von Hessen, der das Meisterwerk der Kartographie als teures Souvenir vor Ort kaufte, sind die vier großen Stadterweiterungen farblich voneinander geschieden. Sekundiert wird das von der farbstrahlenden „Allegorie auf die Stadterweiterung“ Nicolaes Berchems von 1663, auf der Jupiter und Venus persönlich die Personifikation der Stadt mit ihrem Grundriss in Händen begütern – eine allegorische Neubau-Feier wie sie heute ein Bild „Stuttgart 21“ von Neoakademisten gemalt wäre.

Was bedeutet dieser Boom? In Rembrandts Lebenszeit verdreifacht sich die Bevölkerung, es gibt nicht weniger als 19 Klöster in der Stadt. Mit der „Alteratie“, der „Änderung“ von 1578 mit Wechsel von der katholischen zur protestantischen Konfession und der Vertreibung der Mönche standen diese plötzlich leer. Gleichzeitig wuchs mit den Einwohnern auch die Zahl der Waisen, Kranken und Alten, die zuvor überwiegend von den Klöstern versorgt wurden. Die reichen Amsterdamer richten nun in der Tradition der „Sieben Werke der Barmherzigkeit“ in den Klöstern Waisen-, Pflege- und Krankenhäuser ein und in einem das Aalmozeniershuis (bitte sich laut vorlesen und dabei das „z“ wie „s“ sprechen).

Über deren ehrenamtliches Personal aus dem Geldadel und die „Regenten“ (und als Amsterdamer Besonderheit auch „Regentinnen“, die in dieser Zeit seltene Möglichkeit zur politischen und sozialen Partizipation hatten) geben lebensgroße Gruppenbildnisse Auskunft. Sie sind indirekte Abbilder sozialer Strukturen. Der Wichtigste ist meist der Dickste in der Reihe (manchmal auch zwei), unhinterschnitten, im kostbarsten Schwarz (vertraglich wurde festgelegt, ob es das teuerste aus gebranntem Elfenbein sein durfte oder ein günstigeres zu verwenden war), oft noch mit einem Pokal oder Attribut der jeweiligen Gilde in der Hand („das Vorzeigen der Hände als vornehmste Aufgabe des Por­träts“, so Riegl, ist im Gruppenporträt durch die Reihung häufig außer Kraft gesetzt). Individuelle Bildnisse erhalten nur die Auftraggeber, die kellnernden oder herumliegenden Armen werden typologisiert, in zerschlissen dreckige Kleidung oder bestenfalls in schwarz-rote Kluft gesteckt – die Farben des Stadtwappens. Der „Malle Baandje“, bürgerlich Barend Jansz Bode, zeigt einen solchen Waisen.

In die „neuen“ Gruppenbildnisse jedoch rutschen immer wieder alte Bildtraditionen hinein: Die schwarz gewandeten Damen mit ihren teuer gesteiften Mühlsteinkrägen auf Jacob Backers „Die Regentinnen des Burgerweeshuis“ von 1633 könnten auf den flüchtigen Blick auch Nonnen sein. Im Telos handelt es sich eh um alte Anti-Fegefeuer-Bilder. Man könnte sie auf die Formel „Fürsorge und Vorsorge“ bringen – die ausgestellte Caritas, die Hinwendung zu Bedürftigen und sozial Niedrigstehenderen, ist auch im protestantischen Rahmen die wichtigste der drei christlichen Tugenden. Verknüpft ist sie mit der Vorsorge, sich durch die guten Werke in den Himmel einzukaufen und darüber merkantil penibel Buch, genauer: Bild, zu führen. Die Schau zeigt die Bigotterie der Reformierten, den vermaledeiten alten Ablasshandel durch potentiell ewig in den Armen- und Siechenhäusern hängenden Bilder der erkauften Wohltätigkeit fürs Seelenheil ersetzt zu haben.

Plötzlich erhalten anonyme Menschen Biographien

Durch sorgfältige Recherche konnten aber auch viele „Nichtbildwürdige“ eruiert werden. Ein schlagendes Beispiel eines solchen Falls ist der vom Holsteiner Maler Jürgen Ovens aus dem Rembrandtkreis gemalte Sekretär des Waisenhauses, der als Erfolgsstory aus diesem selbst stammt, sowie die lebensgroße Kerzenhalter-Figur in Schwarz-Rot dabeben, ebenfalls ein Waise. Erst recht ist der Aufstieg Jacob van der Sluys’ vom Waisenknaben zum Maler im Städel bildlich belegt.

Der „Unbekannte Engländer“ hingegen, ein hingerichteter Pirat, bleibt ein Anonymus. Sein hochgewachsenes Skelett im Bildzentrum wird in dem wohl von Nicolaes Pickenoy geschaffenen Gemälde der „Osteologie-Vorlesung des Dr. Sebastiaen Egbertsz“ von je drei Doctores auf beiden Seiten angestiert. Eine Krämerstadt verwertet alles: Selbst die Bilder von Anatomievorlesungen sind Gesellschaftsspiegel, wurde doch dabei getrunken und gegessen und die Körper Hingerichteter noch als Modelle genutzt. Und Straffällige mussten sich in Zuchthäusern mit der harten Fron des Farbholzraspelns ihr kärglich Brot verdienen.

Und wo Wohlstand ist, ufert oft auch Prostitution aus. Ein besonderer Amsterdamer Reiseführer hieß „Spiegel der schönsten Kurtisanen unserer Zeit“, ein Bordell-Gemälde zeigt sechs Prostituierte nicht in gläsernen Schaukästen wie heute, vielmehr als Auswahlbilder an der Wand, auf dem Bild von Jacob Backer weist eine Edelhure nicht nur unverhohlen ihre Brüste, sondern auch etwas Goldglänzendes vor: In ihrer rechten Hand hält sie eine Porträtmedaille und blickt dabei den Betrachter herausfordernd an, als wolle sie ihn unmittelbar ansprechen. Schließlich ist eine von sieben Anker-Personae der Schau, die buchstäblich aus der Historie herausvergrößert und in Vitrinen oder weiteren Bildern zum Leben erweckt werden, die tragisch geendete Elsje Christiaen. Die junge und wohl vom Wohlstand der Stadt angelockte Dänin wusste, arbeitslos geblieben, nach sechs Wochen ihre Zimmerwirtin nicht zu bezahlen. Diese setzte sie unter Druck und bot ihr möglicherweise das Abstottern der ausstehenden Miete durch Verdingung zur Prostitution an; Elsje jedenfalls erschlug die Herbergsmutter mit der Axt und wurde 1664, gerade einmal achtzehnjährig, zum Tod verurteilt.

Rembrandts Empathie für Elsje

Die Hinrichtungsstätte liegt vor den Stadttoren, sodass Rembrandt mit dem Boot zum Galgenfeld Volewijck übersetzt und dem tragischen Schicksal ein Gesicht gibt, indem er die erdrosselte Elsje, mit der daneben baumelnden Axt als Mordwaffe, in einer Zeichnung verewigt. Doch nicht nur er, noch mindestens vier weitere Künstler kamen mit ihm, um die Tote zu zeichnen. Sie müssen im Halbkreis um den Pfahl gesessen haben, denn die nur briefmarkengroßen Zeichnungen zeigen Elsje von der Seite im Vollprofil wie auch im Dreiviertelprofil und en face. Was nach übelstem Voyeurismus klingt, ist im Gegenteil eine letzte Ehrung und sehr barocke Anteilnahme im Zeichen der Vanitas. Und Harmenszoon van Rijn wäre nicht „Rembrandt“, wenn seine Zeichnung aus dem Met nicht die anderen Elsjes überragte in ihrer Einfühlung in das Erlittene und der im kurzen Prozess zum Tod Verurteilten so ihre Würde zurückgäbe.

Die packende Schau dürfte somit auch „Anonymus’ Amsterdam – den Nichtbildwürdigen einen Namen geben“ heißen, schafft sie doch längst Überfälliges: Über den klassischen Amsterdamer Bildtypus des Gruppenporträts verleiht sie den hinter den Auftraggebern im Schatten Stehenden eine Vita. Dass viele Entwicklungen der Moderne in Amsterdam ihren Ausgangspunkt nehmen, hat man nach dem Besuch ohnehin verstanden.

Rembrandts Amsterdam. Goldene Zeiten? Städel Museum Frankfurt; bis zum 23. März 2025. Der Katalog kostet 39,90 Euro.

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