Briefe von Schriftstellern aus jungen Jahren zu lesen ist oft, als schaue man sich von Bekannten Kinderfotos an. Man sieht schon vorteilhafte oder weniger vorteilhafte Anlagen, die später deutlich hervorgetreten sind, ahnt in den Zeilen schon das Talent, das sich später entfaltet hat; oder findet die Andeutung von etwas, das später zur unverwechselbaren Handschrift des Autors wurde – im Fall Andrea Camilleris den Hang zur Ironie oder der liebevolle Blick auf skurrile Persönlichkeiten. In Italien sind gerade im Sellerio Verlag seine Briefe aus den Jahren 1949 bis 1960 an seine Familie in Sizilien erschienen. Der Band trägt den Titel „Vi scriverò ancora“ („Ich werde Euch wieder schreiben“), was gut zu Camilleri passt, der erst spät seine Berufung zum Schriftsteller entdeckte. Die meiste Zeit seines Lebens arbeitete er als Theater-, Hörfunk- und Fernsehregisseur, 2019 starb er im Alter von 93 Jahren.
Als er den ersten der im Band versammelten Briefe schreibt, ist er Mitte zwanzig und gerade mit einem Stipendium nach Rom gezogen: Er hat es als einziger Kandidat in den begehrten Regiekurs von Orazio Costa an der Nationalen Akademie für Schauspielkunst geschafft, genießt die neue Freiheit, entdeckt die Stadt und deren Kultur. Ein Jahr später fliegt er von der Akademie, weil er auf einer Exkursion, bei einer Übernachtung im Kloster, von der Oberin mit seiner Freundin im Bett erwischt wird. Camilleri erzählt seiner Mutter in den Briefen ansonsten (fast) alles – von finanziellen Engpässen, vom Essen, von Begegnungen, Erwartungen, Enttäuschungen, von Hitze, Regen, von Vorlesungen, den Entscheidungen der Regisseure und Schauspieler, den Kritikern. Seinem Vater empfiehlt er immer wieder, mit dem Rauchen aufzuhören, was Camilleri selbst bis zum Tod nicht tat.
Zum Bestsellerautor wurde er über Nacht, als er im Pensionsalter mit Salvo Montalbano einen Kommissar erfand, der ihm in seiner Hartnäckigkeit, dem abgründigen Humor und der Vorliebe für gutes Essen nicht unähnlich war. 27 Bücher gibt es mit dem Commissario, zudem mehrere „Montalbano“-Kurzgeschichten. Dass Camilleri schon immer einen Heidenspaß an Verbrecherjagden hatte, versteht man, wenn man den Brief vom 28. Januar 1950 liest. Darin erzählt er von einem Nachmittag mit Kommilitonen und dem Dozenten in der Villa Borghese: Sie spielten stundenlang Räuber und Gendarm: „Ich leitete das Team der Räuber und Costa das Team der Polizisten. Abends taten mir die Beine weh, weil ich zu viel gelaufen bin! Und der Hunger! Ich hatte die doppelte Ration Pasta im Lokal!“