RAF-Dokudrama „Stammheim - Zeit des Terrors“: Sie meinten, die „Schweine“ darf man töten

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Vor fünfzig Jahren, am 21. Mai 1975, begann in Stuttgart-Stammheim ein spektakulärer Prozess. Gudrun Ensslin, Ulrike Meinhof, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe waren angeklagt wegen Mordes in vier und wegen versuchten Mordes in 54 Fällen. 192 Prozesstage sollte es brauchen, bis die Richter die führenden Köpfe der „ersten Generation“ der Terrorgruppe Rote-Armee-Fraktion am 28. April 1977 zu lebenslanger Haft verurteilten. Die Angeklagte Ulrike Meinhof war da schon nicht mehr am Leben, sie hatte sich im Mai 1976 in ihrer Zelle erhängt.

„Vergiss nicht, kein Wort zu den Pigs“

Sie sehen wir in den ersten Szenen des Dokudramas „Stammheim – Zeit des Terrors“ von Niki Stein und Stefan Aust, wie sie in Stammheim anlangt. „Vergiss nicht, kein Wort zu den Pigs“, herrscht sie die mit ihr in den für die RAF-Kader eingerichteten Hochsicherheitstrakt verlegte Gudrun Ensslin an und setzt den Ton. Der Vollzugsbeamte Horst Bubeck bekommt zur Begrüßung einen Tritt in den Unterleib.

Wer hier den Ton angibt, wer Herr, wer Diener (des Systems) ist, wer Mensch und wer „Schwein“, wer also getötet werden darf, das machen die RAF-Häftlinge mit jeder Äußerung klar. Ihre Sprache ist vulgär und brutal, so wie ihre Taten, und zugleich verquast und ideologisch aufgeladen, dazu angetan, sämtliche Verbrechen um eines vermeintlich höheren Ziels willen, im Kampf gegen einen vermeintlichen Unrechtsstaat, zu rechtfertigen. Es gehe darum, die „Masse“ zur Revolution zu bewegen, bildet sich die Terrorschickeria in Stammheim ein.

Psychoterror auch untereinander

Für Nachgeborene dürfte es kaum nachvollziehbar sein, wie derart verfasste Politverbrecher es vermochten, einen Teil der Linken und der Jugend hinter sich zu bringen. Die vier, die uns Niki Stein (Regie und Buch) und Stefan Aust (Buch) in dem Knast-Kammerspiel nahebringen, sind nicht nur den Vertretern des „Schweinesystems“ gegenüber ohne mitfühlende Regung. Ihr Umgang untereinander ist reiner Psychoterror. Den üben vor allem die Pfarrerstochter Gudrun Ensslin und der Frauenverächter Andreas Baader gegenüber der ehemaligen Journalistin Ulrike Meinhof aus. Sie decken sie mit unflätigen Beschimpfungen ein, beleidigen sie wegen ihrer angeblich „bourgeoisen“ Herkunft, die sie nie abgestreift habe, und treiben sie in die Verzweiflung. „Habe ich denn je eine Chance gehabt, in euren Augen zu bestehen?“, fragt sie ihre Peiniger. Hat sie nicht. Und für die ist ihr Suizid in der Zelle propagandistisch ein Glücksfall.

„Big Raushole“ ist angesagt

Denn nun lässt sich erst recht das Märchen verbreiten, sie würden in der Haft gefoltert, der Staat habe vor, sie zu töten. Die „Big Raushole“ ist angesagt – das sind die Terrortaten der „zweiten Generation“ der RAF, um die Einsitzenden freizupressen: Im April 1975 erstürmen sechs RAF-Terroristen die deutsche Botschaft in Stockholm, töten zwei Menschen, nehmen ein Dutzend Geiseln und setzen das Gebäude in Brand. Der Generalbundesanwalt Siegfried Buback und seine Begleiter und der Bankier Jürgen Ponto werden ermordet, Im sogenannten „deutschen Herbst“ 1977 kommt es zur Entführung und Ermordung des Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer, die Lufthansa-Maschine Landshut wird nach Mogadischu entführt. Als es der Spezialeinheit des Bundesgrenzschutzes, GSG 9, gelingt, das Kidnapping zu beenden und die Geiseln zu befreien, wissen die in Stammheim einsitzenden RAF-Häftlinge, dass ihr Plan gescheitert ist. Sie sind mit ihrer Hybris, die Bundesrepublik aus den Angeln zu heben, am Ende. Gu­drun Ensslin, Andreas Baader und Jan-Carl Raspe nehmen sich das Leben. Der Terror der RAF indes geht mit deren „dritter Generation“ weiter, erst 1998 erklärt die Terrorgruppe ihre Auflösung.

Niki Stein (der sich einen Cameo-Aufritt in der Rolle von Hans Joachim Hegelau gönnt, der als Gesandter des Bundeskanzleramts mit Andreas Baader sprach) und Stefan Aust vergegenwärtigen den Terror eindringlich und mit nüchternem Blick, der sich erst nach Jahrzehnten durchgesetzt hat. In früheren Bearbeitungen – „Stammheim“ von Reinhard Hauff (1986), auch nach dem Buch von Aust mit Ulrich Tukur als Baader, oder „Der Baader Meinhof Komplex“ von Bernd Eichinger (2008) – schwang weit weniger durch, worum es Niki Stein geht: herauszuarbeiten, wie politischer Extremismus entsteht und was er aus Menschen macht, die meinen, sie könnten nach Belieben über das Leben anderer und ein ganzes Land verfügen.

Trailer„Stammheim - Zeit des Terrors“

Die Schauspieler, die in dem dicht gewobenen, von Original- zu nachgestellten Szenen gleitenden Dokudrama auftreten – Lilith Stangenberg (Ensslin), Tatiana Nekrasov (Meinhof), Henning Flüsloh (Baader), Rafael Stachowiak (Raspe) und Moritz Führmann (Horst Bubeck) zeigen eindringlich, was sich im siebten Stock der JVA Stammheim damals zutrug. Stein und Aust halten sich – bis auf die umstrittene Frage, ob die Häftlinge heimlich abgehört wurden (hier werden sie es) –, eng an den auch von Aust maßgeblich recherchierten Wissenstand. Alle Fragen sind hier nicht zu behandeln. Wie konnten die Häftlinge Waffen ins Gefängnis schmuggeln? Welche Rolle spielten ihre Rechtsanwälte? Warum ließ es sich der Staat gefallen, dass ständig Informationen zwischen den Häftlingen drinnen und ihren Unterstützern draußen hin- und hergingen und der Terror dadurch eskalieren konnte?

Unbedingt empfehlenswert ist die nach dem Dokudrama gesendete Dokumentation „Im Schatten der Mörder“ von Holger Schmidt und Thomas Schneider. In ihr treten vier Menschen vor die Kamera, deren Väter von der RAF ermordet wurden. Sie erlitten im Kindesalter einen Verlust, der ihr ganzes Leben bestimmt und vor dem sich das eiserne Schweigen der zwischenzeitlich inhaftierten, freigelassenen oder – wie im Fall der gerade unter Anklage stehenden Daniela Klette – „Ex“-Terroristen über ihre Taten und fehlende Reue in ihrer ganzen Unmenschlichkeit noch einmal mehr zeigen.

Stammheim – Zeit des Terrors, 20.15 Uhr, Im Schatten der Mörder um 21.45 Uhr im Ersten und in der ARD-Mediathek.

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