Pop-Anthologie (213): Ein androgyner Alien namens Nomi

vor 12 Stunden 1

Keine Randfigur, sondern Außenseiter, Alien gar – das war Klaus Nomi. Ein Sänger sondergleichen. Unmöglich, ihn einzuordnen. Mal verfiel man auf hilflose Beschreibungen wie „singender Mutant“, „galaktischer Pierrot“ oder „kastrierter Weltraumroboter“. Mit seinem schrillem Make-up – maskenartig weißes Gesicht, schwarze Lippen – plus überdimensionalen, futuristischen Kostümen schaffte es der ausgewanderte Deutsche vom New Yorker Untergrund nicht nur bis auf Pariser Nobelbühnen, sondern ebenso ins heimische Fernsehen, wo er in Thomas Gottschalks „Na sowas!“ zu sehen war. Wer damals diesen sensationellen Auftritt, wie ich als 14-Jähriger, unvorbereitet sah, wird sein jugendliches Erstaunen über dieses fremdartige Wesen namens Nomi nie vergessen.

Für den queeren Konditor aus dem Allgäu (Spezialität: Linzertorte), der 1973 nach New York gegangen war aus Verzweiflung darüber, dass ihm aufgrund seiner Falsettstimme in Deutschland eine Karriere als Opernsänger verwehrt wurde, bedeutete der Auftritt im deutschen Fernsehen weniger Triumpf als Genugtuung: Er hatte es, gegen alle Widerstände, geschafft. Doch der Weg war hart, sehr hart. Im Januar 1944 als Klaus Sperber unehelich geboren, hatte er von vornherein schlechte Startvoraussetzungen. Seine alleinige Passion galt der Oper. Den Beruf des Konditors erlernte er notgedrungen, weil im Opernbetrieb der Nachkriegszeit kein Bedarf bestand an Kontertenören.

Er musste als Platzanweiser arbeiten

So hieß es zumindest. Sperber jedenfalls gab seinen Traum nicht auf. In Berlin gelang ihm eine Gesangsausbildung zu absolvieren und an der Musikhochschule zu studieren. Mit seiner Stimmlage aber, so beschieden ihm 1967 seine Professoren an der Musikhochschule, werde er es nie zu einem Engagement bringen. Genau so kam es: kein Theater, keine Bühne in ganz Deutschland nahm ihn auf. Sperber musste als Platzanweiser in der Deutschen Oper arbeiten, die vielleicht ultimative Erniedrigung für den Ungewollten, Abgelehnten.

Folglich blieb ihm nur übrig dorthin zu gehen, wo ein homosexueller Solitär wie er willkommen war: in der schwulen Szene der Mauerstadt. Im legendären Kleist-Kasino, dem wohl ältesten Schwulenlokal der Welt, in dem eine illustre Gästeschar verkehrt hatte, die von Ernst Röhm über Hubert Fichte bis Andreas Baader reichte, gab Klaus Sperber sein Bühnendebüt. Er sang Arien und Opernmelodien, Abend um Abend, und begeisterte durch seine extravaganten Darbietungen das Publikum.

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Das gab ihm den Mut, sein Glück in der Ferne zu suchen. In New York schlug er sich erst mit Gelegenheitsjobs durch und sicherte sich dann durch seine Konditorkünste einen bescheidenen Lebensunterhalt. Seine Zitronenkuchen, vor allem aber seine exzellenten Linzertorten waren begehrt; selbst das Guggenheim Museum bestellte regelmäßig bei ihm. New York, city of opportunities: Sperber erfand sich neu als androgyner Alien und nahm seinen Künstlernamen an, ein Anagramm des lateinischen Worts „omni“.

Seine Begegnung mit David Bowie

Als Klaus Nomi trat in Kellerlokalen auf mit extravaganten Sets aus Oper und Schlager auf. In den Nachtclubs war der unnatürlich hoch singende Deutsche eine veritable Sensation. Hinzu kam sein teutonischer Akzent, den Nomi bewusst kultivierte, sowie die deutschlastige Auswahl der Songs, die neben klassischem Opernrepertoire und dem Kunstlied auch Stücke von Marlene Dietrich und anderen Stars der Weimarer Republik umfasste. Die glückliche Wendung in seinem Leben war die Begegnung mit David Bowie, der sich des singenden Konditors annahm.

Bowie kleidete den androgynen Nomi in eigenwillige Bühnenoutfits zwischen Pierrot und Roboter, die fortan zu seinem Markenzeichen wurden. Als eine Art vampiristisches Faktotum diente Nomi als Hintergrundsänger bei einen vielbeachteten Auftritt Bowies in „Saturday Night Live“ im Dezember 1979. Die Zuseher staunten nicht wenig über die bleiche Gestalt in hautengem schwarzen Outfit, die hinter Bowie einen pinken Pudel quer über die Bühne zog und andere Merkwürdigkeiten beging.

Die Androgynität eines Androiden

Bowies Patronage brachte den langersehnten künstlerischen Durchbruch. Klaus Nomi war in New York in aller Munde, erhielt einen Plattenvertrag und regelmäßige Einladungen zu Talkshows, er traf Andy Warhol und hatte eine kurze Affäre mit Jean-Michel Basquiat. Sein 1980 erschienenes Debütalbum hieß schlicht „Klaus Nomi“ und zeigte ihn weiß geschminkt in einem schwarz-weißen Kostüm, das eine eigentümliche Mischung aus Smoking mit Fliege und Hugo Balls Dada-Kostüm war. Eine perfekte Inszenierung: Nomi figurierte als schrille Kunstfigur in gänzlich artifizieller Andersartigkeit, was zudem Ausdruck seiner sozialen Ausgrenzung als Homosexueller war. Dem Maskulinitätswahn des Rock stellte Nomi im Anschluss an Kraftwerks elektronische Mensch-Maschinen-Ästhetik gleichsam die Androgynität eines Androiden entgegen.

Nomis „unnatürliche“ Singstimme lieferte das Pendant zu den künstlichen Roboter-Vocals bei Kraftwerk und wie bei den Düsseldorfern bildete das ambivalente Stilprinzip des Retro-Futurismus die Basis seines schillernden Bühnenstylings angesichts einer Mischung aus Space Alien und Weimarer Republik, Einflüssen aus Bauhaus und Suprematismus, japanischem Kabuki-Theater und Expressionismus à la „Metropolis“ sowie Schumann’schem Kunstlied und synthielastigem New Wave-Sound. Monika Hempel, die mit „Klaus Nomi. Stimme im Orbit“ unlängst eine hervorragende Biographie vorgelegt hat, bewertet Nomis Erscheinung als „ein ästhetisches Gesamtkunstwerk, zu dem auch Styling und Habitus gehören: das spacige Outfit, ein starrer Blick, die roboterhaften Bewegungen, eine eindringliche Mimik unter dem dick aufgetragenen Make-up“.

Es ging um die Frage: War er ein Mensch?

Grenzgänger und Zwitterwesen, war Klaus Nomi einer wie niemand sonst in der Pop-Musik. Im Dokumentarfilm „The Nomi Song“ von 2004 schildert der Fotograf Anthony Scibelli, wie fasziniert er von Nomis Selbstinszenierung war: „Es ging dabei nicht um sexuelle Androgynität, sondern eher um die Frage: War er ein Mensch oder nicht? Das war eine Androgynität jenseits von Androgynität.“ Diese, man ist versucht zu sagen: ontologische Unbestimmbarkeit des Klaus Nomi durchdrang auch seine Musik. Sein fulminantes Debütalbum wurde im Electric Ladyland Studio von Jimi Hendrix aufgenommen. Der Opener „Keys of Life“ liefert zum Einstieg gleich eine nahezu leere dystopische Klangfläche, durchwabert von bedrohlichen Synthiebeats, über die Nomi mit Alienstimme seine messianische Botschaft an uns Erdlinge verkündet:

From ancient worlds I come
To see what man has done
What's fact and what is fiction
To judge the contradiction

The future has begun
Much work has to be done
You're running out of time
Beware the sign, the sign

Exploring new dimension
New lifestyle by intention
Do not ignore advice
You hold the keys of life

Noch experimenteller ist das anderthalbminütige Instrumental „Nomi Chant“, das klingt wie eine unverständliche Funknachricht von Außerirdischen, um dann nahtlos überzugehen in den Album-Closer, eine anrührende Liveaufnahme der Arie „Samson und Delilah“, die gegen Ende jedoch nochmals in ein apokalyptisches Klangchaos transformiert. Was für eine bemerkenswerte Klammer um das nur wenig über eine halbe Stunde lange, zugleich höchst vielgestaltige Album.

Gesangsaufnahmen in Toilettenräumen

Stücke wie „You Don’t Own Me“, „Lightning Strikes“ oder „Nomi Song“ kommen vergleichsweise konventionell daher: mal eine Pianoballade, dann wieder ein gitarrenlastiger Rocksong oder ein eingängiger Popsong zum Mitgrölen – wäre da nicht diese irritierende Stimme, deren ätherische Qualität nicht zuletzt daher stammt, dass die Aufnahmen der Gesangsparts, auf ausdrücklichen Wunsch von Nomi, in den Toilettenräumen des Studios erfolgten, weil er fand, dass seine Vocals dort besonders gut zur Geltung kämen.

Einer der zehn Tracks auf „Klaus Nomi“ sticht heraus: „The Cold Song“, mit dem die B-Seite eröffnet wird. Das Stück entstammt dem dritten Akt der 1691 von Henry Purcell komponierten Oper „King Arthur, or The British Worthy“, zu welcher John Dryden, der führende Dichter der englischen Restorationsepoche, das Libretto lieferte. Die Arie hat im Original keinen Titel, wird aber von der Figur des „Cold Genius“ gesungen, woraus Nomi seinen Songtitel ableitete. Indem er nur einen bestimmten Textabschnitt der Arie übernahm, wird Drydens Aussage markant verzerrt. „What power art thou?“, fragt Nomi zu Beginn in den Worten des langverstorbenen Dichters, um fortzufahren:

Who from below
Hast made me rise?
Unwillingly and slow
From beds of everlasting snow!

Es ist die belebende Kraft der Liebe, der Dryden die Macht zuweist, selbst in menschenfeindlicher Kälte zu wirken. In Nomis „kaltem Lied“ aber wird im Weiteren ganz die Vision eines frostigen, so lebens- wie liebesfeindlichen Universums beschworen. Todessüchtige Apotheose der Kälte:

I can scarcely move
Or draw my breath
I can scarcely move
Or draw my breath
Let me, let me
Freeze again to death!

Passend zur altertümlichen Sprache Drydens erklingen elektronische Spinettklänge und getragene, orchestrale Klangflächen aus dem Synthesizer in einem elektronischen Update der melancholischen Musik Purcells. Das ist schon großartig genug, und klang damals, auch wenn es fünf Jahre zuvor mit „Switched on Bach“ bereits eine Synthiedarbietung klassischer Musik gegeben hatte, absolut unerhört, zumal das keine vier Minuten lange Stück im Kontext eines Popalbums auf ein ganz anderes Publikum berechnet war als die Moog-Exerzitien von Wendy Carlos. Vollends grandios aber wurde der „Cold Song“ erst durch die merkwürdig abgehackten, jede Silbe einzeln betonenden Vocals von Nomi, der alle Register seiner operatischen Sangeskunst zieht.

Die Szenerie wird bittere Wirklichkeit

Was für ein Lied! Die musikalische Evokation einer von Isolation und Todesnähe bestimmten Eiseswüste war ein großes künstlerisches Statement, mit dem Nomi eine Ausdrucksform für seine Erfahrungen von Ausgrenzung und Einsamkeit fand, wie für seine Sehnsucht nach Liebe und Partnerschaft. Körperliche Nähe nämlich fand er nur in den Dark Rooms der New Yorker Schwulenszene. Die fatale Szenerie, die er im hoffnungslosen „Cold Song“ beschworen hatte, sollte schon rund ein Jahr später bittere Wirklichkeit werden, als er seine HIV-Diagnose erhielt.

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Der zunehmend geschwächte Nomi kam bald ins Krankenhaus, wo ihn seine Freunde jedoch mieden aus Furcht vor einer Ansteckung mit der damals noch neuen „Schwulenpest“. Seine Mutter, die kein Wort Englisch sprach, flog nach New York, um ihren von allen verlassenen Sohn zu pflegen. Nomi starb am 6. August 1983. Im Alter von nur 39 Jahren wurde er zu einem der ersten prominenten Aids-Opfer. Es war ein elender Tod. Bertha Sperber hatte, genauso wie der gegen Lebensende völlig mittellose Nomi, kein Geld, um die horrenden Krankenhauskosten zu bezahlen. Allerdings stellte sich heraus, dass Nomi doch noch so etwas wie einen alten Freund besaß, da sein Förderer David Bowie die Rechnung beglich.

Bewunderer besitzt Nomi noch heute. Der dreißigste Jahrestag seines Todes fand eine so unerwartete wie bestechende Würdigung, denn zu jenen, die ihn nicht vergessen hatten, gehört Helmut Josef Geier a.k.a. DJ Hell. Mit „Cold Song 2013 (Remodeled)“ verwandelte der bayerische Produzent das Stück in eine pumpende Dancefloor-Nummer, während die B-Seite mit dem „DJ Hell Remix“ Purcells Arie aus dem späten 17. Jahrhundert als House-Track mit afrikanischer Polyrhythmik vergegenwärtigt. So lebt sie fort, diese außergewöhnliche Stimme, und bleibt die Erinnerung wach an den frühverstorbenen Ausnahmekünstler Klaus Nomi.

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