Politische Semantik: Den Globalen Süden gibt es nicht

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Auf den Globalen Süden können sich derzeit viele einigen, vielleicht weil so selten geklärt wird, was damit eigentlich gemeint ist. Das Kompositum, das die Welt so übersichtlich in Täter und Opfer, Mächtige und Unterdrückte teilt, ist aus dem Kultur- und Medienbetrieb nicht mehr wegzudenken. Die „Financial Times“ kürte es vor zwei Jahren zum Wort des Jahres, auch die BRICS-Staaten machen es sich vermehrt zu eigen.

Aus der Nähe betrachtet, überspannt der Globale Süden ein zerklüftetes Ensemble von reichen Öl- und armen Entwicklungs­ländern, Staaten mit und ohne Kolonialvergangenheit, demokratischen und autoritären Regierungen. Auch der vielleicht stärkste Nexus, die überpropor­tionale Betroffenheit vom Klimawandel, wird brüchig, wenn man sich klar macht, dass mit China der weltweit größte Kohlendioxidemittent in diesem Klub vertreten ist. Ist der Globale Süden nur eine Zeitgeistformel ohne analytischen Wert?

Vielfältige Möglichkeiten der Instrumentalisierung

Das versuchte eine von Claus Leggewie und Lukas Böckmann veranstaltete Tagung an der Universität Gießen unter dem leise ironischen Titel „Der Globale Süden. Die politische Semantik einer Himmelsrichtung“ zu klären. Welche Machtinteressen und politischen Hoffnungen hinter dem Begriff stehen und welche Strukturbrüche er anzeigt, waren die näherhin zu beantwortenden Fragen. Ulrike Jureit beschrieb den Globalen Süden im Hauptvortrag in Anlehnung an Carl Schmitt als Großraumkonzept, das vom kulturellen Code des Kolonialen zusammengehalten wird.

Damit meinte sie weniger die Realgeschichte des Kolonialismus als die bekenntnishafte Zuge­hörigkeit zu einer lose mit der histo­rischen Realität verbundenen Chiffre, die ein diametrales Machtgefälle zwischen einem schuldig gesprochenen Norden und einem ausgebeuteten Süden schafft, das sich vielfältig instrumentalisieren lässt: von Gewaltherrschern, die sich damit gegen Kritik immunisieren, oder von Aktivisten, die es als verzerrendes Raster über den Gazakonflikt und die Holocausterinnerung legen.

Erklärung für eine bruchlose Verbindung

Historisch trat der Globale Süden an die Stelle des Dritte-Welt-Konzepts, das mit dem Zusammenbruch des Kom­munismus schlagartig an Strahlkraft verlor, insofern es aus der Bewegung der blockfreien Staaten hervorgegangen war. Schon die Dritte Welt war mit geschichtsphilosophischen und kryptoreligiösen Erwartungen befrachtet gewesen, wie Jan Gerber in seinem Vortrag darstellte. Die antikolonialen Befreiungsbewegungen waren die neuen Hoffnungsträger einer vom Sowjetdespotismus enttäuschten Linken, die sich vom Aufstieg der Dritten Welt nach dem alten revolutionären Schema nichts weniger als die Geburt eines neuen Menschen erhoffte.

Romantische Projektionen, die bald ernüchtert wurden durch die Gewalt, mit denen die Befreiungsbewegungen Nationalstaaten bildeten. Der Sowjetunion gelang es in dieser Zeit, sich auf der Seite der Befreiungsbewegungen zu positionieren und zu­gleich deren Gegner zu finanzieren, während die Vereinigten Staaten zum antikolonialen Feindbild wurden. Das mag erklären, warum sich Antiimperialismus und postkoloniale Kritik des Westens heute so bruchlos verbinden.

Eine eigentlich revisionsbedürftige Linie

Der Globale Süden stand schon bereit, als ein Nachfolger der Dritten Welt gesucht wurde, war aber noch wenig bekannt, wie der Vortrag von Lukas Böckmann deutlich machte. Der amerika­nische Linksintellektuelle Carl Oglesby hatte das Konzept 1969 im Kontext des Vietnamkriegs erstmals aufgebracht und mit dem Ziel eines sozialistischen Systemsturzes verbunden. Sein Appell bliebt jedoch ungehört.

Der im Auftrag der Weltbank erstellte Brandt-Report nahm den Begriff 1980 wieder auf, in dem Bestreben, die wechselseitige Abhängigkeit von nördlicher und südlicher Welt her­vorzuheben. Das Cover des Reports zeigte eine Weltkarte, die nach ökonomischen Kriterien von einer Zackenlinie zwischen Norden und Süden durchzogen war. Indien und China waren dem Süden zu­geschlagen. Angesichts der steilen Entwicklung Chinas, das heute in afrikanischen Staaten nahezu koloniale Macht ausübt, ist diese Linie eigentlich revisionsbedürftig. China hat es aber geschafft, weiter als Teil des Globalen Südens zu gelten.

Impulse aus der dekolo­nialen Bewegung

Breiten Aufschwung nahm das Konzept erst nach der Jahrtausendwende. Enttäuscht über die dem Westen zugeschriebenen Globalisierungsversprechen wurde eine neue Täter-Opfer-Dichotomie geschaffen. Die 2007 an der University of Mississippi gegründete Zeitschrift „The Global South“ versah es mit einem identitätspolitischen Akzent: die Kolonialerfahrung und ihre mentale Fortdauer wurden zum gleichrangigen Begriffsbestandteil neben den entwicklungspolitischen Komponenten, wobei der Kolonialismus nichtwestlicher Staaten meistens aus­gespart bleibt.

Dazu kamen Impulse aus der globalisierungskritischen und dekolo­nialen Bewegung. Welche messianischen Hoffnungen mit der neuen Befreiungsformel verknüpft sind, war den Worten des dekolonialen Theoretikers Ramón Grosfoguel abzulesen, der das Massaker vom 7. Oktober als Sieg des Lichts über die Finsternis und Geburt einer neuen Menschheit beschrieb.

Keine klare Richtung

Ökonomisch und klimapolitisch mag der Globale Süden trotz dieser Unwuchten ein sinnvolles Konzept sein. Steffen Bauer von der umweltpolitischen Denkfabrik Idos hielt es in seinem Vortrag im Ganzen jedoch nur für bedingt geeignet, um klimapolitische Abhängigkeiten auszudrücken, unter anderem weil seine simple Dichotomie dazu verleitet, den deutlichen Emissionsanstieg in manchen Ländern des Globalen Südens auszu­blenden. Auch Lukas Kreienbaum, der die fortdauernde ökonomische Abhängigkeit ehemaliger Kolonien am Beispiel Sambias beschrieb, tendierte eher zum Konzept der Dritten Welt bei der Darstellung entwicklungspolitischer Zusammen­hänge.

Eine erste Entzauberung erlebte der in den vergangenen Jahren kometenhaft aufgestiegene Begriff auf der Documenta 15, die als Kunstschau des Globalen Südens etikettiert war und zum Festival des Antisemitismus geriet. Nach dem Vortrag von Georg Simmerl scheint das Konzept des Globalen Südens eher von hiesigen Kulturfunktionären an die kuratierende Künstlergruppe Ruangrupa herangetragen worden zu sein, die sich auf äußeren Druck dann auch von ihm distanzierte. „Ist die Rede vom Globalen Süden am Ende nur ein Selbstgespräch des westlichen Kultur-, Wissen- und Medienbetriebs?“, fragte Claus Leggewie.

Da mag etwas dran sein. Am Ende der dichten und anregenden Tagung blieb von dem Konzept jedenfalls wenig übrig. Bis diese Botschaft im Kultur- und Wissenschaftsbetrieb angekommen ist, wird es sicher noch eine Weile dauern. So leicht lässt man sich das moralische Kapital dann doch nicht entwenden. Politisch deutet sich an, dass der Nord-Süd-Konflikt wieder von einem Ost-West-Konflikt oder einem multipolaren Muster überlagert wird und der Globale Süden als politischer Kompass zurücktritt, weil er keine klare Richtung anzeigt.

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