Auf dem Jägerberg in Halle, einem Geländevorsprung gegenüber der Moritzburg, thront die Nationale Akademie der Wissenschaften. Der Ort hat historische Tiefe: Der gründerzeitliche Palast mit dem großzügigen Außenbereich, dem repräsentativen Treppenhaus und den beiden Tagungssälen ist das vormalige Lokal der Freimaurerloge „Zu den drei Degen“. Diese löste sich 1934 unter nationalsozialistischem Druck auf, das Gebäude wurde 1937 an die Stadt verschenkt. Nach der Restitution an die Berliner Mutterloge „Zu den drei Weltkugeln“ im Jahr 1998 stand das Gebäude einige Zeit leer. Der drohende Verfall des Denkmals und der erhöhte Platzbedarf der 2008 zur Nationalakademie erhobenen „Akademie der Naturforscher“ fügten sich glücklich zusammen: Die Leopoldina übernahm das Ensemble und nutzt es seit der 2011 abgeschlossenen Sanierung als Hauptsitz. Inzwischen ist auch der mit seiner historischen Ausmalung erhaltene Freimaurer-Ritualraum des VI. Grades im zweiten Obergeschoss wieder eingeschränkt zugänglich.
Seit ihrer Gründung 1652 in Schweinfurt zog die Leopoldina insgesamt fünfzehnmal um: Sitz der Sozietät war zunächst und lange der Wohnort des früher auf Lebenszeit gewählten Präsidenten. Dieser besaß dank kaiserlicher Privilegien eine Machtfülle, die schon Mitte des neunzehnten Jahrhunderts als unzeitgemäß galt. Endgültig in Halle sesshaft wurde die Leopoldina aber erst 1878. Seitdem folgt nicht mehr die Akademie dem Präsidenten, sondern umgekehrt muss dieser sich für die Ausübung seines Amtes an die Saale bequemen. Nach einigen Provisorien entstand um die Jahrhundertwende ein kleiner Campus in Sichtweite der Universitätsbibliothek. Eine 1903 erworbene Villa an der Kreuzung der heutigen August-Bebel- und Emil-Abderhalden-Straße diente bis 2012 als Sitz des Präsidenten. 1904 eröffnete die damals hochmoderne Bibliothek. 1988, noch vor der Deutschen Einheit, kam ein von westdeutschen Stiftungen finanziertes Vortragsgebäude dazu, 1999 folgte ein nur begrenzt zweckmäßiger Archivannex.
Weltniveau seit der Vormoderne
Die Bedeutung der Bestände von Archiv und Bibliothek der Leopoldina liegt auf der Hand: Sie dokumentieren internationale Wissenschaftsgeschichte vom siebzehnten Jahrhundert bis heute, mit den üblichen partiellen Kriegsverlusten. Gerade die enge Verzahnung der Materialien untereinander illustriert, wie die Institution und ihre Mitglieder in weit gespannten Netzwerken gearbeitet haben – nicht zuletzt an der seit 1670 erscheinenden Zeitschrift der Leopoldina, die an sich schon denkmalwürdig ist. Seit 2012 knüpft das Zentrum für Wissenschaftsforschung der Leopoldina an die große wissenschaftshistorische Tradition in Halle an, zu der auch die Edition von Goethes naturwissenschaftlichen Schriften zählt.
Eklatant ist freilich die Diskrepanz zwischen dem Rang der Archivalien und Bücher und ihrer akuten Gefährdung durch unzureichenden Brandschutz, fehlende Klimatisierung, größte Platznot und verschleppte Altschäden. Aus diesem Grund hat die Berliner Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts zwischen 2014 und 2020 fünf Projekte an der Leopoldina gefördert. Zu diesen gehören ein Schadenskataster und erste Sicherungsmaßnahmen. Voraussetzung für die Nachhaltigkeit weiterer Kampagnen wäre indes eine verbesserte Unterbringung der Bestände, das heißt ein groß angelegtes Bauprojekt.
Tatsächlich sollte nach den Planungen der Leopoldina auf die Verlagerung ihres Hauptsitzes die Ertüchtigung des Traditionsstandortes folgen, um Archiv und Bibliothek als Gedächtnis der Institution und Ankerpunkte innovativer Forschung zu stärken. Das Leipziger Büro Blässe Laser Architekten, das 2015 schon den kleinen Lese- und Vortragssaal auf dem Campus umgestaltet hatte, legte nach längeren Vorarbeiten 2016 eine Studie für den Neubau eines Archivgebäudes hinter der denkmalgeschützten Bibliothek vor. Mit welcher Dynamik sich die Leopoldina des Themas annahm, zeigen die Monitoring-Berichte, die vom Berichtsjahr 2017 an regelmäßig über das Projekt informieren, zunächst mit einem für 2021 angesetzten Eröffnungstermin.
Gelder von Bund und Land lagen bereit
Abgesehen von den erwartbaren Kompromissen des Bauens im Bestand lief alles nach Plan. Insbesondere der Mehraufwand, der sich aus dem dramatischen „Modernisierungsstau“ infolge „jahrzehntelanger Vernachlässigung“ ergab, stellte das Projekt nicht in Frage, sondern bewies dessen Dringlichkeit erst recht. So sparte die Leopoldina über Jahre hinweg sogenannte Mittel zur Selbstbewirtschaftung (SB) für das Vorhaben an; auch Bund und Land planten Gelder für die hochgradig notwendige Baumaßnahme ein.
Dann kamen die Covid-19-Pandemie, in der die Leopoldina als Nationalakademie erstmals im Feuer der Tagespolitik stand, und im März 2020 ein neuer Präsident, der Mainzer Paläoklimaforscher Gerald Haug. Die Planungen wurden neu bewertet, Kostenrisiken wurden benannt, konzeptionell andere Vorstellungen erwogen. Ausgangspunkt war der Gedanke, die beiden Standorte auf komplexe Weise miteinander zu verschränken, anstatt sie konzeptionell voneinander abzugrenzen: Ein Teil der Archivalien und Bücher sollte in ein neues unterirdisches Magazin im Jägerberg umziehen; die frei gewordenen Flächen in der denkmalgeschützten Bibliothek hätten im Gegenzug instruktive Besichtigungen und die Einrichtung attraktiver Arbeitsplätze für Akademieprojekte erlaubt. Zudem wünschte man sich ein architektonisches Ausrufezeichen im Stadtraum, idealerweise durch ein berühmtes Büro.
An zwei Standorten zu bauen wäre nicht notwendigerweise billiger geworden, von den praktischen Herausforderungen einer Aufteilung der Bestände ganz zu schweigen. Im Ergebnis wurden die bisherigen Pläne, welche die Leopoldina über Jahre beharrlich verfolgt hatte, gestoppt. Die angesparten SB-Mittel flossen zurück in den Haushalt der Akademie; die für 2021 vorgesehenen Gelder der Zuwendungsgeber wurden nicht ausgezahlt. Bei aller Diskretion, die in der Sache bis heute waltet, machte sich hier und da ein leises Grummeln vernehmbar.
Das Grundstück wurde nicht gekauft
Umso erfreulicher lesen sich die Ausführungen im aktuellen Monitoring-Bericht für 2023: Nach dem Archivgebäude hinter der Bibliothek und der Aushöhlung des Jägerbergs kommt nun eine dritte Variante ins Spiel, nämlich ein Ergänzungsbau auf dem Nachbargrundstück am Weidenplan, das zur Zeit als Parkplatz genutzt wird. Eine attraktive Visualisierung zeigt, wie die Leopoldina auf diese Weise mehr Sichtbarkeit im urbanen Umfeld erlangen könnte. Das Projekt, für das seit Ende 2023 eine Machbarkeitsstudie vorliegt, würde nicht nur die dringenden Bedürfnisse von Archiv und Bibliothek stillen, sondern auch Schnittstellen zur außerakademischen Öffentlichkeit etablieren.
Die Sache hat allerdings einen gewaltigen Haken: Das zu bebauende Grundstück hätte erst aus Privatbesitz erworben werden müssen. Da dieses Geschäft nach Drucklegung des Berichts platzte, liegen die Pläne für die dritte Option – und damit auch die Sanierung der Bestandsbauten – wiederum auf Eis.
Inzwischen haben neue Krisen die Pandemie abgelöst. Präsident Haug scheidet nach einer Amtszeit im Februar von Halle, zu seiner Nachfolgerin wurde die Kölner Ökonomin Bettina Rockenbach gewählt. Nach den fetten Merkel-Jahren drohen magere Zeiten von biblischem Ausmaß. Die „prekäre Unterbringungssituation“ der Bestände mag untragbar sein, doch trifft sie auf eine absehbar angespannte Haushaltslage.
Freilich sind begrenzte Mittel mitunter ein denkmalpflegerischer Segen, wenn sie den Wunsch nach neu gebauten Landmarken einhegen und den Blick auf das Vorhandene lenken. Die von der Leopoldina genutzten Gebäude sind ein (Quellen-)Fundus, in dem sich die Geschichte der Institution während der letzten 150 Jahre genauso spiegelt wie in den Archivalien und Büchern. Die sensible Ertüchtigung dieser Zeitschichten, insbesondere auch der Spuren der DDR-Zeit, läge ebenso nahe wie eine funktionale Differenzierung der Standorte. Ein vierter Erweiterungs- und Sanierungsplan wird am historischen Campus als Kern, bei dem schon die ersten Überlegungen vor einem Jahrzehnt ansetzten, nicht vorbeikommen.
„Nunquam otiosus“, niemals müßig, so lautet das Motto der Leopoldina, die als dezidiert moderne Einrichtung gern mit ihrer langen Tradition wirbt. Drei, demnächst vielleicht vier Planungsanläufe – das zeugt von Fleiß, gründlichem Abwägen sowie Befindlichkeiten aller Arten. Jetzt müssen zum Wohl des kulturellen Erbes Taten folgen, und zwar solche, die einer nationalen Leuchtturminstitution würdig sind.