Herbert Reul nennt am Montag viele Gründe, warum er in NRW seinem Verfassungsschutz schärferes Handwerkszeug geben will. Russlands Krieg in der Ukraine zum Beispiel, denn Ermittler deckten erst vorige Woche auf, dass Moskaus Spione offenbar in Köln Sabotageakte planten. Auch sei die Zahl politisch motivierter Straftaten drastisch gestiegen, vor allem von Rechtsextremisten. Aber es gibt einen Grund, warum Nordrhein-Westfalens CDU-Innenminister nun von seinem Koalitionspartner vieles bekommt, was noch vor ein, zwei Jahren auf der Tabu-Liste der Grünen stand: Solingen, der Terroranschlag im August 2024, bei dem ein mutmaßlicher Islamist drei Menschen tötete.
Das bestätigt auch Dorothea Deppermann, im NRW-Landtag grüne Sprecherin für Demokratie und Verfassungsschutz. „Solingen hat eine andere Dynamik geschaffen“, sagt die Verwaltungswissenschaftlerin der SZ, „wir reagieren darauf, dass sich die Sicherheitslage drastisch verändert hat.“
„Terroristen telefonieren nicht, die sind bei Telegram.“
Nach monatelangen zähen Verhandlungen zwischen Schwarzen und Grünen hat Nordrhein-Westfalens Koalitionsregierung nun einen Gesetzentwurf formuliert, der samt Begründungen 336 Seiten füllt. Politiker in Düsseldorf glauben, manche Passagen ihres Kompromisses könnten anderen Ländern sogar als Blaupause dienen. Denn die meisten Bundesländer sehen sich gezwungen, ihre Gesetze anzupassen. Terroristische Einzeltäter radikalisieren sich oft einsam im Internet, gefährliche Netzwerke planen ihre Taten längst über verschlüsselte Messengerdienste. „Terroristen telefonieren nicht, die sind bei Telegram“, sagt Herbert Reul am Montag. Gleichzeitig hat etwa das Bundesverfassungsgericht 2022 in einem Grundsatzurteil zum bayerischen Verfassungsschutzgesetz den Schlapphüten klare Grenzen gesetzt. Nicht nur die Wirklichkeit, auch die Rechtsprechung hat sich verändert.
Die rheinische Formel lautet: mehr Überwachung – und mehr Kontrolle der Überwacher. Einerseits bekommen die Verfassungsschützer an Rhein und Ruhr mehr Zugriffsrechte etwa auf die Handys von Verdächtigen oder zum Einsatz von künstlicher Intelligenz (KI) bei der Datenauswertung. Im Gegenzug jedoch muss der NRW-Verfassungsschutz sich gefallen lassen, dass ihm Gerichte, das Parlament und ein Gremium von Experten („G-10-Kommission“) zum Schutz der Grundrechte der Bürger genauer auf die Finger schauen. Es ist der Versuch, in veränderten Zeiten ein neues Gleichgewicht von Sicherheit und Freiheit auszutarieren.
Beamte können die Datenflut nicht mehr händisch bearbeiten. KI soll helfen
Ein Beispiel für diesen Balanceakt sind die NRW-Normen für den vermehrten (und bislang ungeregelten) Einsatz von KI. Das Gesetz anerkennt die chronische Überforderung der Beamten: Die Datenflut im Netz könne „händisch nicht mehr ansatzweise“ bearbeitet werden; der Verfassungsschutz als Frühwarnsystem sei gefährdet. Also soll Software künftig helfen, um Informationen zu sortieren, zu filtern – und sogar zu priorisieren. Einerseits.
Andererseits will das neue Gesetz verhindern, dass im Rechenzentrum der Behörde unbemerkt ein „Großer Bruder“ heranwachsen kann. Deshalb bleiben „selbst weiter lernende Systeme“, die sich verselbstständigen und vielleicht einseitig filtern könnten, verboten. „Das soll kein undurchsichtiger Algorithmus sein wie bei Tiktok oder X“, sagt die Abgeordnete Deppermann. Am Montag bestätigt Jürgen Kayser, der Chef des NRW-Verfassungsschutzes, die KI könne und dürfe „nur helfen vorzusortieren. Am Ende muss ein menschlicher Auswerter alles bewerten.“ Und ja, es sei „absolutes Neuland“, was man da gerade betrete: „Das ist noch nirgendwo in Deutschland geregelt.“
Anderes gibt es anderswo bereits. Erstmals erlaubt nun auch NRW den heimlichen Einsatz von Software etwa gegen Terrorverdächtige, um verschlüsselte Chats oder E-Mails mitzulesen. Diese „Quellen-TKÜ“ (Telekommunikationsüberwachung) per „Staatstrojaner“ muss zuvor von Rechtsexperten genehmigt werden. Der Zugriff auf sämtliche gespeicherten Daten des Handys („Online-Durchsuchung“) hingegen bleibt in NRW verboten. Die Grünen legten ihr Veto ein.
Mitgetragen haben die Grünen hingegen, dass der Verfassungsschutz bei Verdacht auch Daten von Jugendlichen ab 14 Jahren abgreifen darf. Bisher galt ein Mindestalter von 16. Vorigen Sommer verurteilte das Landgericht Köln einen 15-Jährigen, der einen Anschlag auf einen Weihnachtsmarkt in Leverkusen geplant hatte.