Hat Angela Merkel in ihrer Kanzlerschaft Warnungen, sich in der Energieversorgung einseitig von Russland abhängig zu machen, ignoriert? Wie sah Merkels Rolle im Zusammenhang mit dem Bau der Gaspipeline Nord Stream 2 konkret aus?
Grüne und Linke appellieren an die Regierungsparteien CDU, CSU und SPD, zu diesen Fragen eine umfassende parlamentarische Aufklärung zu ermöglichen.
»Die Rolle der früheren Bundeskanzlerin und ihrer Regierung rund um Nord Stream 2 schreit nach umfassender Aufklärung. Die schwarz-rote Koalition muss die Fakten schonungslos auf den Tisch legen und die beteiligten Ausschüsse umfassend informieren«, sagte Irene Mihalic, Erste Parlamentarische Geschäftsführerin der Grünen, dem SPIEGEL.
Es gehe darum, aufzuzeigen, inwiefern eine deutsche Bundesregierung »unser Land wissentlich in die einseitige Abhängigkeit von russischem Gas getrieben hat, mit all den gravierenden Folgen, die wir heute kennen.« Wer die Fehler der Vergangenheit nicht haarklein aufarbeite, werde schnell wieder auf falsche Pfade geraten und naiv in die nächste Falle tappen, so Mihalic.
Laut Recherchen hat Merkel Warnungen nicht berücksichtigt
Jan van Aken, Parteivorsitzender der Linken, sagte dem SPIEGEL: »Die Abhängigkeit von russischem Gas, die uns die letzte schwarz-rote Bundesregierung eingebrockt hat, muss dringend parlamentarisch aufgeklärt werden. Wie auch die Milliardeninvestitionen der Ampelregierung für LNG-Terminals.« Van Aken spricht sich für einen Untersuchungsausschuss aus. »Natürlich nicht mit den Stimmen der AfD, aber vielleicht finden sich ja auch in SPD und CDU einige rechtschaffene Abgeordnete mit Interesse an Aufklärung.«
Zur Einsetzung eines Untersuchungsausschusses fehlen Grünen und Linken die nötigen Stimmen. Beide Parteien schließen eine Zusammenarbeit in dieser und anderen Fragen mit der AfD strikt aus.
Zuvor hatten bereits weitere Grünenpolitiker die frühere schwarz-rote Bundesregierung unter Kanzlerin Merkel wegen der Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas scharf kritisiert. »Angela Merkel wusste über die Risiken Bescheid und ist sie geflissentlich übergangen. Damit ist sie ihrem Amtseid, Schaden vom Land abzuwenden, nicht gerecht geworden«, sagte Michael Kellner, der in der Ampelregierung Parlamentarischer Staatssekretär im Wirtschafts- und Energieministerium war, der »Süddeutschen Zeitung«.
Der Grünenvorsitzende Felix Banaszak sagte der Zeitung: »Ohne ernsthafte parlamentarische Aufklärung werden die bis heute offenen Fragen nicht zu klären sein.«
Hintergrund für die erneute Kritik ist ein Bericht der »SZ«, wonach das Kanzleramt Warnungen vor einer großen Abhängigkeit Deutschlands von russischem Gas und den beteiligten Unternehmen zwar zur Kenntnis genommen, aber daraus keine Konsequenzen gezogen habe.
Die Zeitung forderte dazu bisher nicht öffentliche Unterlagen aus dem Kanzleramt und Ministerien an. Es geht dabei um den Verkauf deutscher Gasspeicher an den russischen Gazprom-Konzern, der 2015, also erst nach der Annexion der Krim durch Russland, erfolgte, sowie die Haltung der damaligen Bundesregierung gegenüber dem Pipelineprojekt Nord Stream 2.
So habe das Kanzleramt intern bei dem Verkauf der Gasspeicher darauf hingewiesen, dass dadurch Risiken entstehen: »Durch Kontrolle wichtiger Gasspeicher (Befüllung, Funktionsfähigkeit) wird Gazprom für die Versorgungssicherheit der Kunden unmittelbar verantwortlich«, zitiert die Zeitung einen Vermerk aus den ihr vorliegenden Dokumenten. Allerdings habe das Bundeswirtschaftsministerium von Sigmar Gabriel (SPD) unter anderem argumentiert, dass der Verkauf ohnehin nicht verhindert werden könne. Merkels Büro teilte der »SZ« nach deren Angaben als Stellungnahme lediglich mit, zuständig sei das derzeitige Bundeskanzleramt, weil dort die entsprechenden Akten aufbewahrt würden.
Europäer wollen neues Sanktionspaket gegen Russland schnüren
Nord Stream 2 sollte Gas des ehemals wichtigsten Lieferanten Russland über die Ostsee nach Deutschland bringen. Dazu kam es aber nie. Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 stoppte die Ampelkoalition das Projekt.
Die Gasversorgung Deutschlands wurde komplett umgestellt. Dadurch schossen die Preise vorübergehend drastisch in die Höhe, die Belastungen für die Verbraucher wurden teilweise durch staatliche Maßnahmen abgefedert.
Einer der zwei fertigen Röhrenstränge der Gaspipeline wurde bei einem Anschlag im September 2022 zerstört , ebenso wie die zwei Stränge der bereits in Betrieb genommenen Pipeline Nord Stream 1, über die zuvor jahrelang große Mengen an russischem Gas importiert worden waren.
Bundeskanzler Friedrich Merz (CDU) hat zuletzt den Vorschlag der EU-Kommission unterstützt, bei neuen Sanktionen gegen Russland die Wiederaufnahme des Betriebs der Nord-Stream-Gaspipelines in der Ostsee zu unterbinden. Das sagte er nach einem Treffen mit Italiens Ministerpräsidentin Giorgia Meloni in Rom. Die direkten Gespräche zwischen Russland und der Ukraine am Freitag in Istanbul seien hinter seinen Erwartungen zurückgeblieben – »trotz einer maximal konstruktiven Haltung der ukrainischen Verhandlungsführung«.
Merz hatte am Samstag vergangener Woche bei einem Besuch in Kyjiw zusammen mit dem französischen Präsidenten Emmanuel Macron, dem britischen Premierminister Keir Starmer und dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk Russland ultimativ aufgefordert, einem 30-tägigen Waffenstillstand zuzustimmen. Für den Fall einer Weigerung hatten sie mit Sanktionen gedroht. Russland ließ die Frist jedoch verstreichen.
Nun wollen die Europäer ein neues Sanktionspaket schnüren, das vor allem den Finanz- und Energiesektor betreffen soll. EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte am Freitag erste Einzelheiten bekannt gegeben und dabei Nord Stream genannt.