Suizid der Eltern: Wie man mit dem schweren Verlust umgeht

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 Dann kommt das Leben.

Zuerst kommt die Trauer: Dann kommt das Leben.

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Lea Sofia Fichtner / DER SPIEGEL

Vor zwei Jahren war ich nach einem Burnout erst in einer Hamburger Psychiatrie, dann in einer Klinik nördlich der Stadt gelandet. In der Klinik sagte mir ein Oberarzt bei der Visite: »Sie machen einen desolaten Eindruck.«

Ich konnte nicht widersprechen. »Und wie ich aus Ihrer Akte ersehe, hat sich ihr Vater das Leben genommen. Das ist schlecht.« Ich schaute ihn erwartungsvoll an – selbst in meinem »desolaten« Zustand erschien mir Das ist schlecht ein bisschen dürftig als Diagnose. Die Kinder von Suizidtätern seien mehr gefährdet, selbst Suizid zu begehen, als Nicht-Betroffene, so verstand ich den Arzt. Für mich klang das, als ob er mir gerade den Wetterbericht durchgeben würde. Ich sagte nichts.

Zwei Jahre später suizidierte sich meine Mutter, und dieser Klinikarzt fiel mir wieder ein. Wenn ich vorher schon gefährdet gewesen war, in den Sack zuhauen, wie standen meine Chancen jetzt? Hatte sich das Gefahrenpotenzial verdoppelt?

Ich glaube nicht, dass der Suizid von Verwandten ein Verhängnis ist, das sich erfüllen muss. Ich erfreue mich mittlerweile einer passablen Gesundheit, bin einigermaßen optimistisch, was die Zukunft angeht, und wenn ich ins Gras beiße, dann nur, weil ich mit übertriebenem Espressokonsum mein Herz in die Luft gejagt habe.

Wenn es etwas gibt, das wohl auf einige Nachkommen von Suizidtäterinnen und -tätern zutrifft, dann das hier: Sie sind prädestiniert für Einsamkeit.

Denn wer sich das Leben nimmt, kündigt einen Generationenvertrag auf. Das konventionelle Muster geht so: Man bringt Kinder zu Welt, bugsiert sie nach besten Kräften ins Leben, steht dem Nachwuchs, so gewünscht, immer mal wieder zu Seite. Am Ende, wenn es die Ressourcen erlauben, sorgen sich die Kinder um die alt und krank gewordenen Eltern.

Es gibt Suizidtäter, die haben die Nachkommen nicht mehr im Blick. Er oder sie sind dann konzentriert auf das eigene Befinden/Drama/Elend und erklären den Kindern und Kindeskindern, dass bei ihnen nichtsmehr zu holen sei. Manche Menschen, die sich umbringen, »drehen sich heim«, wie die Österreicher sagen. Ihr Zuhause liegt im Jenseits. Im Diesseits sind sie unbehaust geblieben, und dort lassen sie dann ihr Leben und alle anderen zurück. Für Aussprachen, Korrekturen, Diskussionen stehen sie nicht mehr zur Verfügung.

»Der Suizidäre beansprucht eine Verfügungsgewalt über sich, die Welt und auch über den Schmerz der Zurückbleibenden«, schreibt Roger Willemsen in seinem Buch »Der Knacks«. Das trifft es gut, nur dass ich Schmerz mit einem Gefühl tiefer Verlassenheit und Einsamkeit ergänzen würde.

Ich habe über die Jahre mit vielen Hinterbliebenen von Suizidtätern und -täterinnen gesprochen, und alle haben bestätigt, dass sie manchmal von Einsamkeitsgefühlen überwältigt werden. Der Satz, den ich von Nachkommen eines Suizidtäters gelesen habe, bringt die Misere auf den Punkt: »Mit Grauen und Hilflosigkeit akzeptieren wir, dass du uns zurückgelassen hast.«

Diese Mischung aus Hilflosigkeit und Zurückgelassen sein kann in tiefe Einsamkeit umschlagen. Und weil man sich mit jenen, die einen zurückgelassen haben, nicht mehr auseinandersetzen kann, erscheint dieses Einsamkeitsgefühl ausweglos. Ich sage bewusst erscheint, weil Erscheinungen, verstanden als Eindrücke, Gefühle und Annahmen, nicht die Wirklichkeit darstellen.

Sie sind kein Schicksal, vor dem es kein Entrinnen gibt. Meine Erfahrung: Die Einsamkeit, die sich aus der Tatsache ergibt, auf diese schockierende Weise zurückgelassen worden zu sein, wird milder. Wie bei allen schweren Belastungen ist es wichtig, sich nicht in Scham, Groll und Zorn zurückzuziehen. Sondern sich mit anderen zu verbinden und zu reden.

»Kommt, reden wir zusammen. Wer redet, ist nicht tot«, hat der politisch entgleiste, als Dichter der Einsamkeit aber unschlagbare Gottfried Benn geschrieben. Genau: Wer sich ausspricht, wie es so lapidar heißt, hat bessere Überlebenschancen. Und gewinnt Zeit. Das Einsam sein, so schmerzhaftes sein mag, ist nicht in Stein gemeißelt – schon gar nicht in einen Grabstein.

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