News des Tages: Medizin-Nobelpreis, SPD ohne Kevin Kühnert, Kurswechsel bei Kamala Harris

vor 2 Tage 1

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1. Vom Bleiben

Nun geht er wohl doch zu Ende, dieser »Tag, der niemals endet«, wie Stefan Kuzmany heute in der Lage am Morgen schrieb, weil sich die Erinnerung an das Böse nicht an Kalenderdaten halten darf. Hoffen wir, dass es ein 7. Oktober ohne Terror und ein Tag des Gedenkens bleiben wird.

Allerdings besteht die Chance, dass heute irgendwo auf der Welt ein künftiger Diktator oder eine künftige Kriegsverbrecherin geboren wurde. Bei dieser Gelegenheit: Keinen Glückwunsch von mir in den Kreml, zum Geburtstag »unseres nationalen Führers« und neuen »Zaren«, wie ein Herr P. dort gerade gefeiert wird.

Wir feiern lieber zusammen mit Victor Ambros und Gary Ruvkun ihren Nobelpreis für Medizin. Zwar haben mich die Fragen »posttranskriptionaler Genregulation« bislang weniger umgetrieben als die Regulation meines Anwohnerparkausweises, aber umso mehr bestaune ich die Leistung der beiden US-Wissenschaftler. »Wie ist es möglich, dass zwar jede Zelle eines Körpers die gleiche Erbgutinformation trägt und sie sich doch wesentlich voneinander unterscheiden?« .

 »Das ist eine Party. Man stellt sich einen Haufen Wissenschaftler nicht als Partylöwen vor, aber genau das sind wir«

Ruvkun und Ambros 2014 bei einer Preisverleihung: »Das ist eine Party. Man stellt sich einen Haufen Wissenschaftler nicht als Partylöwen vor, aber genau das sind wir«

Es gibt Momente, wo alles vermeintlich Wichtige mit einem Herzschlag seine Bedeutung restlos verliert. Wer jemals ernsthaft krank war, weiß, wie das ist. Der ehemalige Juso-Vorsitzende Kühnert ist eines der größten politischen Talente der Republik, in seiner Eloquenz manchmal anstrengend, in der Regel erfrischend angstfrei, und zumindest ein Mensch in meinem Bekanntenkreis ist seinetwegen in die SPD eingetreten. Der NDR hatte Kühnert drei Jahre lang begleitet und gezeigt, wie viel Härte und Biegsamkeit zugleich bei diesen Ämtern verlangt und als selbstverständlich vorausgesetzt wird. Die Dokumentation »Kevin Kühnert und die SPD« ist immer noch in der Mediathek verfügbar .

3. Vom Umdrehen

Wie weit darf man sich verbiegen als Handelnde, und ist »Verrat an der guten Sache« tatsächlich eine Kategorie des Politischen? Mein Kollege Claus Hecking ist derzeit in den USA unterwegs, neugierig wie jeher, um Fragen wie diesen hinterherzuspüren. Heute schreibt er uns aus dem Städtchen Eighty-Four (es heißt wirklich so) in Pennsylvania. »Big Daddy Shaw« heißt dort ein Gasfeld, auf dem das umstrittene Fracking praktiziert wird. Sand, Wasser und Chemikalien werden unter hohem Druck in den Untergrund gepresst, um poröses Gestein aufzubrechen und an Öl- und Gasreste in den Zwischenräumen zu gelangen. Kamala Harris war lange eine Gegnerin dieses Verfahrens. Als Generalstaatsanwältin überzog sie die Ölindustrie mit Strafzahlungen in Millionenhöhe.

Doch als Präsidentschaftskandidatin hat sie ihre Haltung komplett geändert. »Ihr radikaler Kurswechsel entsetzt Natur- und Klimaschützer, er lässt ihre Widersacher spötteln«, schreibt Claus. »Aber er könnte Harris den Einzug ins Weiße Haus sichern.« Pennsylvania ist einer der Swing States, von deren Eroberung die Präsidentschaftswahl abhängt. Harris hat es dort schwer. Und Donald Trump hat dort in Butler, dem Ort des Attentats auf ihn, gerade erst eine Ohrläppchen-Messe abgehalten, die an die Reliquienverehrung des Spätmittelalters erinnert . Alles, um dieses Pennsylvania auf sich einzuschwören. Leider ist das Irrationale eine Kategorie des Politischen, die von den Vernünftigen immer unterschätzt wird.

Was heute sonst noch wichtig ist

Meine Lieblingsgeschichte...

...ist es allein schon wegen ihrer Überschrift: »Lieber nackt im Garten als bewaffnet im Untergrund«. Meine Kollegin Solveig Grothe berichtet aus einem Ort, über den im SPIEGEL selten berichtet wird, was möglicherweise damit zu tun hat, dass Utopiaggia auch Google Maps unbekannt ist. »Eine Gruppe von rund 40 Erwachsenen« versammelte sich einst, um »Neue Weisen der Kooperation und Vergemeinschaftung« im »Wechselspiel von lebenspraktischem Tun und Reflexion« umzusetzen.

Was nach Ampel klingt, geschah aber schon Anfang der Achtzigerjahre und wurde zu einer der wenigen noch existierenden Landkommunen deutscher Aussteiger in Italien. Solveig Grothe, Jahrgang 1975, hat die Kommunarden besucht und eine Zeitkapsel gefunden: Es gibt sie noch, die guten Alten!

Mit einem Empfehlungsschreiben von Jürgen Habermas höchstselbst in der Tasche hatten sie sich damals nach Umbrien aufgemacht, um statt im Untergrund auf eigenem Grund die Welt oder doch zumindest das eigene Sein zu verbessern. »Bewaffneter Kampf war nicht mein Ding. Außerdem war ich schwanger«, sagt eine Barbara »Fantasia« Wolf. Eine Geschichte aus unserer Vorzeit, lesens- und betrachtenswert, vor allem für uns Nach-Achtundsechziger, die sich weder dem Kampf noch dem türlosen Gemeinschaftsklo verschreiben wollten.

Was wir heute bei SPIEGEL+ empfehlen

  • »Die Trauer und der Schmerz sind Teil unseres Alltags«: Seit dem Terrorangriff der Hamas und dem folgenden Krieg hat der SPIEGEL über die Schicksale von Menschen in Israel, Gaza und im Westjordanland berichtet. Zehn von ihnen haben wir gefragt, wie es ihnen heute geht. 

  • »Wir wollen eine andere Regierung für die Menschen in Iran«: Seit dem 7. Oktober hat die Europäische Union im Nahostkonflikt kaum eine Rolle gespielt. Hannah Neumann, Vorsitzende der Iran-Delegation im EU-Parlament, sagt, woran das liegt und was sich bessern kann. 

  • Wissing dringt auf schnelle Staatshilfe für Flugtaxifirma Lilium: Das Flugtaxi-Start-up Lilium ruft nach staatlichen Krediten, andernfalls könnte die Pleite drohen. Verkehrsminister Volker Wissing fordert nach SPIEGEL-Informationen eine Zustimmung des Parlaments. Doch dort gibt es erhebliche Bedenken. 

  • Links und plötzlich reich – was mache ich mit meinem geerbten Geld?: Matthias lebt als Autor in einer linken Blase aus Künstlern, Aktivisten und anderen Wohlmeinenden. Auf einmal erbt er ein Millionenvermögen samt Fabrik. Wie sich beides in Einklang bringen lässt. 

Was heute weniger wichtig ist

My home is my castle: Vor Obdachlosigkeit sind nur wenige Menschen wirklich geschützt, und von diesen wiederum ist der Thronfolger des Hauses Windsor einer der geschütztesten. Da mag das Schloss ab und zu abbrennen, da mag einen die Großmutter für unerwünscht erklären – ein Windsor fällt nicht weit vom Stamm und meist ins Weiche. Was also treibt Prinz William, 42, den künftigen König Großbritanniens, dazu, sich ausgerechnet für Obdachlose einzusetzen? »Prince William: We Can End Homelessness« heißt eine Doku, die der britische Sender ITV und das Königshaus produziert haben. In einem kurzen Video sagt der Prinz von Wales, wie wichtig es sei, »das Narrativ über Obdachlosigkeit zu ändern und zu bekämpfen«.

Mini-Hohlspiegel

Von der Website der »Frankfurter Rundschau«

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Entdecken Sie hier noch mehr Cartoons.

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Schauspieler Ulrich Matthes

Schauspieler Ulrich Matthes

Heute Abend ist Themenabend bei Arte (22.10 Uhr und verfügbar noch bis zum 5.11.2024), gewidmet dem Schauspieler, Sprecher und großen Freund des geschriebenen Wortes Ulrich Matthes. Wir sehen Tom Tykwers »Winterschläfer« und dazu einen langen Porträtfilm der Produzentin Mechtild Lehning: »Ulrich Matthes – Leidenschaft und Haltung«. »Sein Gesicht vergisst man nicht: asketische Züge mit tief liegenden dunklen Augen. Je nach Rolle schaut er mit ihnen stechend, forschend, unbarmherzig oder auch überraschend sanft auf sein Gegenüber«, schreibt Lehning. Ich schreibe, dass Matthes außerdem ein überaus hilfsbereiter und Mut machender Zeit- und Stadtteilgenosse ist.

Ceterum censeo: »3sat-Kulturzeit« non delendam esse. Oder anders gesagt: Es geht übrigens nicht an, dass eine der bewährtesten und immer anregenden Kultursendungen im öffentlichen Rundfunk von irgendwelchen Optimierern zur Disposition gestellt wird. Ich gelobe Widerstand an dieser Stelle und wünsche einen erfreulichen Ausklang des Tages.

Herzlich

Ihr Alexander Smoltczyk, Reporter

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