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So nah dran war Oklahoma City Thunder noch nie. Wobei, die NBA-Meisterschaft hat das Team schon mal gewonnen, allerdings war das 1979 und man sprach noch von den Seattle Supersonics. Ein Land vor unserer Zeit.
Seit dem Umzug nach Oklahoma City und der Umbenennung war das Team nur einmal in den Finals, in der Saison 2011/12.
Für OKC spielten die damals noch jungen Kevin Durant, Russell Westbrook und James Harden – ein historisches Trio, heute zählen alle drei zu den Größten ihrer Generation. Drei Superstars, unterstützt von einer Handvoll Helfern.
Was damals nicht funktionierte, könnte jetzt mit einem völlig anderen Ansatz gelingen.
Das Erfolgsrezept der Thunder erinnert an ein anderes Titelteam vor drei Jahren – allerdings in einer anderen Sportart. Im Winter 2022 gewann Argentinien in Katar die Fußball-WM, angeführt von Lionel Messi. Den Offensivkünstler flankierten Vollstrecker wie Enzo Fernández, Rodrigo de Paul oder Nicolás Otamendi.
Es war nicht immer schön, aber Argentinien kam ans Ziel. Zehn Kämpfer und ein Zauberer, schrieb der SPIEGEL damals.
So ähnlich spielt auch OKC. Der »Zauberer« heißt in diesem Fall Shai Gilgeous-Alexander.
Den 26-Jährigen mit Messi zu vergleichen, wäre zu hoch gegriffen, aber seine Rolle in seinem Team ist ähnlich, und immerhin wurde der agile Guard zum MVP (wertvollsten Spieler) der Saison gewählt.
Im Angriff überlässt Trainer Mark Daigneault oft seinem Star die Zügel. Unterstützung erhält Gilgeous-Alexander von Jalen Williams und Chet Holmgren, was in den meisten Partien für ein solides bis sehr gutes Gesamtniveau in der Offense genügt.
OKC verteidigt wie im Fußball
Das Fundament für Oklahoma Citys Erfolg ist jedoch nicht der Angriff, sondern die Verteidigung. In der Defensive verfügt OKC über nahezu keine Schwachstellen, am ehesten wäre noch der grundsolide Gilgeous-Alexander zu nennen. Dem Point Guard fehlt wegen seines offensiven Aufwands manchmal hinten die Energie. Doch auch er kann ein ebenso giftiger Zweikämpfer sein wie seine Teamkollegen.

Selbst Offensivstar Shai Gilgeous-Alexander verteidigt mit
Foto: Kyle Phillips / APDaigneault schwelgt im Luxus. Der Thunder-Coach kann sich alles erlauben: eine große Aufstellung mit Präsenz unterm Korb oder lieber fünf kleinere, aber dafür schnelle Spieler.
Im Laufe jeder Partie kann er mit verschiedenen Konstellationen experimentieren, um offensive Impulse zu setzen, und muss dabei aber nie fürchten, defensive Schwachstellen zu eröffnen.
Das ist eine Seltenheit im Basketball. Gerade in der NBA neigen Teams heutzutage oft dazu, defensiv anfällige Spieler im gegnerischen Team gezielt zu jagen.
Allzu komplex ist die offensive Taktik dann gar nicht: ein paar Laufwege, ein bisschen Dribbeln, alles nur mit dem Ziel, dass der ballführende Spieler nicht mehr seinen ursprünglichen Gegenspieler vor der Nase hat, sondern einen Gegner, der zu klein, zu groß oder zu langsam ist. Das nennt man Mismatch. Und sobald dieses erreicht ist, probiert der Angreifer sein Glück, ob mit Hilfe oder einfach im Eins-gegen-eins.
Mit OKC ist das kaum möglich. Wer nach einem Mismatch sucht, kann lange suchen. In Korbnähe verteidigt der deutsche Center Isaiah Hartenstein verlässlich, neben ihm beeindruckt der schlaksige Chet Holmgren. Von der Bank kommen mit Aaron Wiggins und Cason Wallace zwei athletische Flügelspieler – flink, robust, defensivstark.

Isaiah Hartenstein (r.) im Duell mit Myles Turner
Foto: Nate Billings / AP / dpaDoch was die Thunder-Defense besonders macht, sind drei Ausnahmetalente: Alex Caruso, Jalen Williams und Luguentz Dort.
Caruso, 2023 und 2024 in die All-Defensive-Auswahl gewählt, ist ein Meister darin, Ballführer unter Druck zu setzen.
Williams, dieses Jahr All-Defensive, glänzt durch Vielseitigkeit.
Und Dort? Mit seinem bulligen Format könnte er ebenso als Footballer oder Ringer durchgehen. Er ist der gefährlichste Verteidiger des Trios.
Indiana in Ketten gelegt
Mit seinem hyperaggressiven Stil terrorisiert dieses Defensivrudel gegnerische Ballführer. Ohne Erbarmen fischen sie nach dem Ball, stellen Körperkontakt her, drängen und schubsen ihre Gegner herum. Immer an der Grenze des Erlaubten. Damit sorgen sie für eine Dynamik, die im Basketball selten ist.
Normalerweise geht es nicht darum, den Ball zu erobern wie im Fußball. Nur eher selten kann man verhindern, dass der Gegner zum Abschluss kommt, vielmehr soll jeder Wurf so schwierig wie möglich gemacht werden. Das Ziel ist, die Erfolgswahrscheinlichkeit von gegnerischen Abschlüssen zu senken.
OKCs Balljäger erzeugen aber fußballartige Verhältnisse. Den Ball allzu lange zu halten, geschweige denn zu dribbeln, ist für Angreifer fahrlässig, so groß ist die Gefahr, dass einer dieser Kettenhunde dazwischenschießt und den Ball stiehlt.

Luguentz Dort (r.) gegen Pacers-Star Tyrese Haliburton
Foto:Manuela Soldi / EPA
Indiana bekam das besonders in der Schlussphase von Spiel fünf zu spüren. OKC hatte fast die gesamte Partie über recht komfortabel geführt, aber Indiana kämpfte sich mühselig heran. Bahnte sich etwa eine Aufholjagd der Pacers an? Schon wieder?
Der Abstand schrumpfte immer weiter, zwischenzeitlich betrug er nur noch zwei Punkte, dann wieder acht. Dann machte die Thunder-Defense ernst.
Beim Stand von 105:97 und 6:33 Restminuten bis Spielende – alles noch drin – stahl Gilgeous-Alexander einen Pass von Indianas Andrew Nembhard und punktete vorn selbst. Nächster Angriff Pacers, nächster Ballverlust, nächster Korb für OKC. 110:97 für Thunder.
Pacers-Coach Rick Carlisle ahnte Böses und nahm schnell eine Auszeit. Es half nichts.
Weiter ging es: Caruso schnappte sich den nächsten Ball, dann war Dort mal an der Reihe bei einem Pass von Pacers-Spielmacher Tyrese Haliburton, was zu erneuten Punkten am anderen Ende führte. Innerhalb von nicht einmal 90 Spielsekunden hatte Thunder die Achtpunkteführung verdoppelt – mit vier Ballgewinnen hintereinander. Die Partie war so gut wie entschieden.
Insgesamt gab Indiana 22-mal den Ball her. »Ein Rezept für die Katastrophe«, urteilte Haliburton. Sein Team hat zwar noch die Chance auf ein entscheidendes Spiel sieben, immerhin sind Comebacks die Spezialität der Pacers. Doch wenn OKC diese Intensität beibehält, könnte die NBA-Saison in der Nacht zum Freitag (2.30 Uhr) ihr Ende finden – mit Oklahoma City Thunder als neuem Champion.