Nationalepos der Philippinen: Der enttäuschte Traum vom Sieg der Aufklärung

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Es dürfte der einzige Roman der Weltliteratur sein, in dem nicht nur der Ort, an dem das Leben seines Autors enden wird, eine wichtige Rolle spielt, sondern auch die Art, wie er dort stirbt. Am 30. Dezember 1896 wurde der Schriftsteller José Rizal auf dem Campo de Bagumba­yan vor der Festung der spanischen Kolonialherren in Manila hingerichtet, und in seinem neun Jahre zuvor pu­blizierten Debüt­roman fährt dessen Protagonist, Don Juan Chrisóstomo Ibarra y Magsalin, in einer Kutsche genau dort vorbei und erinnert sich an sein politisches Er­weckungserlebnis: „Er dachte an den Mann, der seinen schlummernden Verstand geweckt und ihn gelehrt hatte, was gut und recht war. Die Gedanken, die er ihm eingeflößt hatte, waren vielleicht nur wenige gewesen, aber sie waren kein nachgeplappertes Zeug, es waren Überzeugungen, die auch im grellsten Licht des Fortschritts nichts von ihrer Kraft verloren hatten. Dieser Mann war ein alter Priester gewesen (. . .). Dieser Mann war hier auf dem Exekutionsplatz gestorben.“

Jeder Filipino weiß, wer damit gemeint war: der bei seiner Hinrichtung 1872 schon zweiundsiebzigjährige katholische Priester Mariano Gómez, den man gemeinsam mit seinen jungen Glaubensbrüdern José Burgos und Jacinto Zamora wegen Subversion gegen die spanische Herrschaft zum Tode verurteilt hatte. 24 Jahre später erging das gleiche Urteil gegen Rizal – vor allem auf der Grundlage seines Romans. Es mutet wie Verzweiflung oder gar Zynismus an, das dessen Titel „Noli me tangere“ lautet: der Satz, den Jesus laut dem Johannesevangelium nach seiner Auferstehung an Maria Magdalena richtete, im Sinne von „Halt mich nicht auf“, doch in lateinischer Fassung lautet er eben: „Rühr mich nicht an.“

Sein Freiheitsideal schulte Rizal an Schillers „Wilhelm Tell“

Dieser Roman mit dem lateinischen Titel ist das zentrale Werk der philippinischen Literatur, geschrieben auf Spanisch und heute in englischer Übersetzung ­obligatorische Schullektüre im Heimatland des Autors – vergleichbar in seiner Bedeutung als Nationalepos mit Dantes Commedia, Cervantes’ „Don Quijote“ oder Goethes „Faust“. Alles Bücher, die Rizal kannte, denn er schrieb sein eigenes während der Ausbildung zum Mediziner, die er in Europa absolvierte, vor allem in Spanien, Frankreich und Deutschland, und er eignete sich dort über seine Muttersprache Tagalog und das Spanisch der philippinischen Oberklasse hinaus Kenntnisse der wichtigsten europäischen Sprachen an – im Deutschen sogar derart ambitioniert, dass er Schillers Freiheitsepos „Wilhelm Tell“ ins Tagalog übersetzte. Rizal war ein unbedingter Verfechter des Selbstverwaltungsrechts der Philippinen.

 „Noli me tangere“. Roman.José Rizal: „Noli me tangere“. Roman.Insel

Nicht aber der Unabhängigkeit von Spanien; darin war der dem „Mutterland“ treue Don Chrisóstomo Ibarra das genaue Spiegelbild seines ­Verfassers. Beide, Autor und Figur, kehrten nach langem Auslandsaufenthalt, der ihnen die Ungerechtigkeiten des heimischen Gesellschaftssystems deutlich gemacht hatte, auf die Philippinen zurück. Dass Rizal die Folgen dieser Rückkehr beschrieb, bevor er sie selbst überhaupt angetreten hatte, macht seinen Roman geradezu gespenstisch prophetisch, denn beiden, ­Autor und Figur, widerfährt dasselbe Schicksal: Ihre guten Absichten werden verkannt, sie selbst als Verräter verfolgt. Nur dass Ibarra im Roman dem Tod entgeht, doch er verliert alles andere, vor allem die Liebe zu der von ihm angebeteten Maria Clara.

Der böse Witz dieses Romans

Nun könnte man meinen, dass dies der Stoff für ein großes (Melo-)Drama ist. In der Tat, aber auch für eine große rabenschwarze Komödie. Zumindest die ersten hundert Seiten des Romans, also ein gutes Fünftel, bieten sarkastische Szenen, die eines Mark Twain würdig wären. Da gibt es bitterböse Ironie, wenn es um Verstorbene geht, da spielen sich grandios-groteske Dialoge zwischen sich lauter gebenden Ordensleuten ab, da ist ein Gespräch zwischen zwei Totengräbern, das „Hamlet“ persi­fliert.

Rizal packt also das ganze literarische Besteck aus, das er sich in Europa als lesewütiger Student erworben hat, und mal orientiert sich sein „Noli me tangere“ am Vorbild von „Wilhelm Meister“, mal an „Die Kartause von Parma“. Wer sehen will, wie ein polyglott-neugieriger Schriftsteller die ganze westeuropäische Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zu einem Stoff bündelt, der lese „Noli me tangere“. Nie ist der universelle Anspruch der Aufklärung literarisch so ­euphorisch erhoben worden wie hier. Nie aber auch dessen Scheitern so illusionslos vorweggenommen.

Auf Deutsch erschien der Roman erst 1987 zum hundertsten Jahrestag der in Berlin gedruckten spanischen Erstaus­gabe, übersetzt – und das ganz ausgezeichnet, im eleganten Duktus seiner Zeit, der uns durch die große literarische Tradition noch immer tiefvertraut ist  – von der österreichischen Hispanistin Annemarie del Cueto-Mörth, die vor drei Jahren gestorben ist und somit die um zwei entschieden zu kurze Nachworte ergänzte Neuausgabe ihrer Übersetzung beim selben Verlag (Insel) nicht mehr erleben durfte. Was beim ersten Mal in Deutschland ohne jede Wirkung blieb, verspricht diesmal angesichts des philippinischen Gastlandauftritts auf der Frankfurter Buchmesse mehr Aufmerksamkeit, und weiß Gott: Rizals Buch hätte sie verdient.

Fortsetzung folgt - schon im Oktober

Im Oktober folgt übrigens beim Mitteldeutschen Verlag auch die Neuausgabe der bereits 2016 einmal (bei Morio) erschienenen Übertragung der Fortsetzung von „Noli me tangere“, des 1891 von ­Rizal in Belgien veröffentlichten Romans „El filibusterismo“, vom Übersetzer, dem Heidelberger Romanisten Gerhard Walter Frey (er verstarb schon 2014), als „Die Rebellion“ betitelt. Darin kehrt Ibarra, als Juwelenhändler namens Simoun maskiert, auf die Philippinen zurück und beschließt sein Leben am Ende in der Obhut eines Priesters, der dem Sterbenden sagt: „Wenn Spanien erleben würde, dass wir Tyrannei nicht hinnehmen, aber entschlossener sind, für unsere Rechte zu kämpfen und zu leiden, dann würde uns Spanien die Freiheit schenken.“

Das war Rizals idealistischer Traum, aber der endete realiter für ihn nicht im Bett wie bei seinem Alter Ego Ibarra, sondern vor dem Peloton. Aber Rizal nahm in „Noli me tangere“ auch die Wirkung seines gewaltsamen Todes vorweg, wenn er den wahren Revolutionär des Romans, den Steuermann Elias, sagen lässt: „Der Schlaf währte Jahrhunderte, doch eines Tages fuhr ein Blitz nieder, und als der Blitz krachend einschlug, als er Burgos, Gómez und Zamora tötete, erwachte das Leben. Seit damals gehen neue Ideen in den Köpfen um (. . .). Gott hat die anderen Völker nicht im Stich gelassen, er wird auch das unsere nicht im Stich lassen. Seine Sache ist die Sache der Freiheit.“ Heute ist der im Alter von 35 Jahren erschossene José Rizal der erklärte Nationalheld der unabhängigen Philippinen.

José Rizal: „Noli me tangere“. Roman.
Aus dem philippinischen Spanisch von Annemarie del Cueto-Mörth. Nachworte von Lieselotte Kolanoske und Filomeno V. Aguilar Jr. Insel Verlag, Berlin 2025. 543 S., geb., 28,– €.

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