Nachruf auf Hermann Unterstöger: Grundsätzlich glücklich

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Was macht die Süddeutsche aus? Darauf gibt es Dutzende, nein: Hunderte Antworten, je nachdem wen man fragt. Die einen halten diese Zeitung für immer noch links, die anderen dagegen längst für rechts. Für die einen ist sie unterhaltsam und gebildet, für die anderen erwartbar und Clickbaiting. Wer aber die SZ gut kennt, wer sie liest, weil er gerne liest, wer feine Ironie mag und Comedian-Klamauk verabscheut, wer gar eine längere Beziehung – schreckliches Wort – zur Süddeutschen aufgebaut hat, der (oder die) weiß eines ganz bestimmt: Hermann Unterstöger ist die SZ. Er ist die SZ, wie Franz Beckenbauer mal der FC Bayern war oder die Schwarze Madonna Altötting ist.

An diesem Freitag, morgens um halb acht, ist Hermann Unterstöger in Altötting, seinem Heimatort, gestorben. In ein paar Tagen wäre er 82 geworden. Die SZ gibt es zwar noch. Aber sie ist nicht mehr das, was sie vor diesem Freitag war.

Unterstöger hätte so einen Satz als „weit übertrieben“ abgelehnt. Er hätte vielleicht sein Unterstöger-Lächeln gelächelt und dann eine Anekdote erzählt, wie ein ihm Bekannter aus Brandhub oder Wagenhofen mal vor lauter Eitelkeit fast am Schweinsbraten erstickt wäre. Und dann hätte er vielleicht ein Streiflicht über zu große Worte mit vielen kleinen Wörtern geschrieben, die sich zu einem großartigen, wenn auch nur 71 Druckzeilen zählenden Text gefügt hätten. Einem dieser sehr vielen, sehr brillanten, alltäglichen, einzigartigen Streiflichter von Hermann Unterstöger. Man möchte weinen, heulen an diesem Tag, an dem er starb.

Unterstöger war nicht nur die SZ, sondern noch mehr das Streiflicht. Für jene Gelegenheitsnutzer, die es vielleicht auf der Homepage noch nicht gefunden haben: Das Streiflicht ist seit dem 12. Juni 1946 die tägliche Leitglosse der SZ links oben auf der Seite Eins. Auch wenn es mal keine gedruckte SZ mehr geben sollte, wird das Streiflicht weiter links oben auf der Eins stehen. Das Streiflicht lebt ewig, so wie von jetzt an Hermann Unterstöger ewig leben wird. Einer muss ja das ewige Streiflicht schreiben.

Sein letztes Streiflicht wurde am 28. Mai 2025 veröffentlicht

Unterstögers erstes Streiflicht erschien am 17. Februar 1979. Es wurde angeregt vom legendären Reporter Hans Ulrich Kempski und handelte von der Nürnberger Marktfrau Gunda, „die es entschieden an Dezenz im Umgangston fehlen ließ“ und die deswegen vor Gericht gezerrt wurde. Sein letztes Streiflicht wurde am 28. Mai 2025 veröffentlicht. Darin beschäftigte er sich mit den Kleidungsgewohnheiten von Adam und Eva sowie denen einer Vertreterin der Grünen Jugend. Hermann Unterstöger hat 46 Jahre lang Streiflichter geschrieben, deutlich mehr als 3000 an der Zahl. Die Erkenntnis, dass ihm das niemand nachmachen wird, ist banal. Man kann Unterstöger sowieso nicht nachmachen. Jene, die es versucht haben, wissen das am besten.

Es gibt Menschen, die irgendwann aufhören, älter zu werden. Unterstöger gehörte zu diesen Menschen. Er sah mit leichten Farbveränderungen seines geschneckelten (für Nicht-Bayern: gelockten) Haares seit ungefähr 25 Jahren so aus, als schriebe man unablässig das Jahr 2000. Andere gingen am Stock, wurden krank, vergaßen immer mehr. Bei ihm fragte man: „Und wie geht’s dem Hermann?“ „Er sieht jedenfalls so aus wie immer“, lautete die Antwort. Auch die Tatsache, dass er nach seiner Verrentung so weiterschrieb, als sei nichts geschehen, förderte diesen Eindruck. Unterstöger war das beste Argument gegen jede starre Altersgrenze.  Er balancierte die Arbeit und das Leben mit seiner Frau Gabi so hervorragend aus, dass man fast nie daran zweifelte, dass er das tue, was er liebte, und es so tue, wie es ihm gefiel. Er war wohl ein grundsätzlich glücklicher Mensch.

Nicht nur deswegen war er unter den stets an sich, der Redaktion und der Welt leidenden Journalistinnen und Redakteuren eine Ausnahme. Als er am vergangenen Wochenende aus dem Krankenhaus wieder nach Hause kam, meldete er sich mit dem Vorhaben: „Ich arbeite mich jetzt wieder in die Menschheit zurück.“ Es sah so aus, als könne es klappen. Leider war es nicht so.

Unterstöger war die letzte Instanz in Fragen der geschriebenen Sprache

Selbst aus Münchner Sicht stammte Unterstöger aus der Provinz, allerdings einer nahezu heiligmäßigen Provinz. Er wurde am 25. Juni 1943 in Kirchweidach südlich des tiefbayerischen Wallfahrtsorts Altötting geboren. Der spätere Papst Benedikt XVI. stammte aus Marktl östlich von Altötting. Ratzinger glaubte fester, Unterstöger aber schrieb besser. Im Frühjahr 1978 kam der nicht ganz zu Ende studierte Altphilologe Unterstöger als junger Redakteur zur Ebersberger Lokalausgabe der SZ. Davor arbeitete er bei der Passauer Neuen Presse. Außerdem war er unter anderem, wie das Axel Hacke mal in einer Laudatio über Unterstöger sagte, „als Bierausfahrer, Aluminium-Fenster-Bauer sowie Schichtarbeiter in der Landshuter Kondensatorenfabrik Roederstein“ tätig. Eine Existenz als Inspektorenanwärter im Landratsamt Landshut war ihm so wenig zuträglich, dass er früh-, also rechtzeitig kündigte. Unterstöger war kein Irgendwas-mit-Medien-Mensch. Er fand eher spät zur Zeitung, und dass er überhaupt zu ihr fand, sollte der Zeitung, gäbe es sie denn als Wesen, Anlass für immerwährende Dankbarkeit sein.

Früher rekrutierten sich die besten Autorinnen und Schreiber bei der SZ entweder aus dem Sportressort oder aus den Lokalteilen. Unterstöger war zwar ein begabter Posaunist und annehmbarer Klavierspieler, hatte mit Sport aber weniger am Hut. So machte er seinen gemächlichen Karriereweg dann eben von Ebersberg nach München in die Zentrale. Dort avancierte er leise, mehr von anderen geschoben als sich selbst schiebend, zum Großreporter in bayerischen Dingen, zum kenntnisreichen Beobachter der katholischen Kirche und der abnehmenden Volksfrömmigkeit, zum gelegentlichen, ironischen Begleiter seines päpstlichen Landsmannes. Vor allem aber war er „Sprachpapst“, um ein einziges Mal in diesem Nachruf eine der von Unterstöger freundlich, aber entschieden abgelehnten Phrasen – Ikone, vor Ort, unbeschadet (statt unbeschädigt) – zu benutzen. Unterstöger war die letzte Instanz in Fragen der geschriebenen Sprache (und gab dem jede Woche im „Sprachlabor“ auf der Forum-Seite Ausdruck).

Obwohl Hermann Unterstöger unendlich belesen, gebildet und voller Anekdoten war, war er kein „Star“. Er gehörte nicht zu denen, die man aus dem Fernsehen kannte, und er hätte den Teufel getan, seine Ansichten über des Teufels InstaXTwitter zu verbreiten. Er war sich selbst genug. Es kommt nicht von ungefähr, dass die Fülle seines geschriebenen Wohllauts in einer nur mit „SZ“ gezeichneten Glosse, eben dem Streiflicht, zu finden ist. Er war durchaus stolz darauf zu wissen, dass hinter dieser Anonymität auch ganz entscheidend seine Individualität stand. Und dennoch nahm er sich nie wichtiger als die Zeitung. Wer einen solchen Kollegen, Autor oder gar Freund gefunden hat, kann sich nur glücklich schätzen.

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