Gerade wenn ein Bild einer historischen Gestalt fest im öffentlichen Bewusstsein verankert ist, neigt die Geschichtswissenschaft dazu, es zu hinterfragen. Ihre Aufgabe ist es schließlich, Mythen zu dekonstruieren und die Überlieferung auf bewusste oder unbewusste Verzerrungen hin zu prüfen. Wenn sie dies allerdings eine Zeit lang getan hat, mag der Punkt kommen, an dem neue Erkenntnisse nicht mehr durch Kritik der überkommenen Deutung zu gewinnen sind – sondern, indem man sie besonders ernst nimmt.
Folgt man Mischa Meier, ist dieser Punkt in der Nero-Forschung offenbar erreicht. Der Tübinger Althistoriker, der spätestens mit seiner preisgekrönten „Geschichte der Völkerwanderung“ von 2019 einem breiteren Publikum bekannt wurde, erklärte gleich zu Beginn seines Vortrags in der Münchner Carl Friedrich von Siemens Stiftung, warum er den Dutzenden Nero-Biographien der vergangenen Jahrzehnte eine weitere hinzufügen will. Der Ausgangs- und Fluchtpunkt von Meiers Neudeutung überraschte dabei, indem er nicht überraschte: Neros Künstlertum.
Künstlertum wird “wegerklärt“
Hatten nicht schon antike Geschichtsschreiber zentrale Stellen ihrer Werke den Auftritten des Kaisers in Theater und Circus gewidmet? Hatte nicht Plinius der Jüngere das Nero-Bild der Zeitgenossen gut dreißig Jahre nach dessen Tod auf das Schlagwort des scaenicus imperator, des „Bühnenkaisers“, gebracht? Und hat sich das Bild des grausig kunstbesessenen Herrschers nicht längst auch ins kollektive Gedächtnis der Moderne gebrannt, spätestens seit Peter Ustinov 1951 im Film „Quo vadis?“ zum Brand von Rom mit der Leier dilettierte?

Nichts davon wollte Meier abstreiten oder relativieren. In der althistorischen Forschung jedoch sei Neros Kunstbegeisterung „wegerklärt“ worden: Sei es als diffamierende Überzeichnung feindlicher Senatoren, sei es als verdeckte Legitimationsstrategie eines gewieften Machtpolitikers. Was aber, so konnte man Meier verstehen, wenn das Bild der Überlieferung an dieser Stelle stimmiger ist als das Bild der Forschung? Was, wenn sich Nero tatsächlich primär als Künstler und nur sekundär als Kaiser verstand, ihm sein politisches Amt also vor allem dazu diente, seine künstlerischen Vorstellungen zu verwirklichen?
Ausgeprägter Perfektionismus
Meier begann mit einem knappen historischen Abriss: Geboren 37 nach Christus, kam Nero als gerade Sechzehnjähriger im Jahr 54 auf den Thron, regierte anfangs durchaus glücklich und konsensual, bis er nach dem Mord an seiner Mutter Agrippina 59 zunehmend an Ansehen verlor und 68 schließlich einer Revolte von Heer und Senat erlag. Schon früh begann er zu dichten: erotische Epigramme, Epen, Tragödien und vieles mehr. Die wenigen erhaltenen Verse deuten laut Meier auf einen ausgeprägten Perfektionismus hin: Hier war ein Profi am Werk oder wollte es sein.
Dichtende Kaiser und Aristokraten waren indes nicht selten. Deutlich charakteristischer, und in den Augen der Zeitgenossen schockierender, war, dass Nero mit seinen Dichtungen auf die Bühne trat: erst unter geladenen Gästen, dann im griechisch geprägten Neapel, bei den zweiten Neronia im Jahr 65 schließlich sogar in der Stadt Rom selbst. Die strengen Anwesenheitspflichten, die dabei herrschten, wurden von antiken Historikern immer wieder karikiert – einige Zuschauer sollen sich sogar tot gestellt haben, um als Leichen aus dem Theater geschafft zu werden.
Suche nach dem Gesamtkunstwerk
Für Meier ist dieser zwanghafte Publikumsbezug ein zentrales Element von Neros totalisierender Kunstauffassung. Der Künstlerkaiser habe sich nicht damit begnügt, wie ein normaler Schauspieler auf- und abzutreten, sondern habe im Zusammenspiel mit den Zuschauern ein gänzlich neues Kunsterlebnis schaffen wollen. An dieser Stelle wartete der Althistoriker, der selbst auch schon als Komponist in Erscheinung getreten ist, mit der überraschendsten Referenz des Abends auf: einer Analogie zum Gesamtkunstwerk Richard Wagners.

Sowohl der Tondichter als auch der Kaiser hätten ihren Darbietungen einen kultischen Rahmen zu geben versucht: Dort die Bayreuther Festspiele, hier die Selbstinszenierung als Apollo mit „göttlicher Stimme“. Beide hätten ihre Stoffe bevorzugt dem Mythos entlehnt. Beide schließlich hätten in ihren Werken und Auftritten verschiedene Kunstgattungen vereint. Heißt das, dass Wagner unmittelbar durch Nero geprägt wurde, der „Ring des Nibelungen“ gar aus der Sueton-Lektüre hervorging? Eher, so Meier, sei von einer doppelten Beeinflussung durch die griechische Tragödie auszugehen. In jedem Fall aber zeigten die Parallelen zum großen Erneuerer des Musiktheaters, wie ernst es der Kaiser mit der Kunst nahm.
So stellte Nero auch die Politik unter ihren Primat – und verwirklichte damit unter monarchischen Vorzeichen womöglich jene Ambitionen, die Wagner nach seinen revolutionären Anfängen begraben musste. Auffällig an den vielen Verwandtenmorden sei ihre aufwendige Inszenierung: Die Ermordung seiner Mutter Agrippina zum Beispiel enthalte alle Elemente einer Tragödie. In der berüchtigten Christenverfolgung entdeckten die Zeitgenossen zahlreiche mythische Referenzen. Und immer wieder ist in den Quellen von Neros spectacula die Rede, auch bei politischen Handlungen.
Ein Theaterkaiser im Theaterstaat
Woran also scheiterte ein Kaiser, der die Klaviatur der Künste so perfekt beherrschte? Sueton und Cassius Dio berichten, dass der Kaiser über den schönen Schein zunehmend den Kontakt zur Wirklichkeit verlor. Auf Meldungen von Aufständen reagierte er, indem er Wasserorgeln inspizierte. Als er doch einmal ein Heer aufstellte, zählte es mehr Schauspieler als Soldaten. Und noch kurz vor seinem Selbstmord sah Nero sich als Künstler, nicht als Kaiser sterben (qualis artifex pereo!) – gerade wegen dieser Rollenverkehrung aber starb er.

Solche Berichte von Neros letzten Tagen wollte Meier nicht wörtlich verstanden wissen: Die Geschichtsschreiber inszenierten sie als Antwort auf Neros eigene Inszenierungen. Warum aber hatte Meier dann so viel zuvor dem Kaiser und nicht den Quellen zugeschrieben? Wenn Tacitus Neros Mord an Agrippina als Tragödie präsentiert, sagt das nicht ebenfalls mehr über Tacitus als über Nero aus? Hatte die bisherige Forschung also nicht zu Recht eine Überlieferung infrage gestellt, die Neros zweifellos vorhandene künstlerische Neigungen auf alle Facetten seines Wirkens überträgt?
Solche Fragen trafen den Vortragenden nicht unvorbereitet. Freimütig räumte er in der anschließenden Diskussion ein, dass jede Deutung Neros bestimmte Vorentscheidungen treffen müsse, die auch die Quelleninterpretation beeinflussten. Er plane sogar, explizit fiktionale Passagen in seine Biographie einzubauen, um auf die Unsicherheiten einer jeden Rekonstruktion hinzuweisen.
Während sich die Plausibilität von Meiers Neudeutung am Gesamtergebnis wird erweisen müssen, ist ihre Relevanz kaum zu bestreiten. Denn zu welchen Teilen auch immer man Neros Künstlertum dem Kaiser oder den Quellen zurechnen möchte – es verweist auf ein zentrales Strukturelement des kaiserzeitlichen Staates. Der von Augustus begründete Prinzipat war in sich ein Kunstgebilde mit kompliziertem Verhältnis zur Wirklichkeit: eine Autokratie, die sich als Republik ausgab. In einem solchen Theaterstaat warf ein Theaterkaiser die zentrale Frage nach Schein und Sein auf. Kein Wunder, dass Nero faszinierte.