Roman „Wild wuchern“: Duell zweier Frauen auf einer Alm

vor 16 Stunden 1

Katharina Köllers Roman „Wild wuchern“ beginnt als klassisches Beziehungsdrama: Eine junge Frau, geschlagen, beleidigt und erniedrigt von ihrem narzisstischen Mann, flüchtet in die Tiroler Berge. Mitten in der Nacht rennt die Ich-Erzählerin Marie in ihrer städtischen Verkleidung und ohne Gespür für die Tücken der Natur einen Berg hinauf. Sie stolpert, strauchelt und fällt, ihr Carolina-Herrera-Pullover ist längst blutbesudelt, und auch die goldenen Sneaker wirken in diesem stockdunklen Wald grotesk. Maries Ziel ist eine Alm, auf der sie als Kind beim Großvater viele schöne Tage verbracht hat, bis diese Zeit jäh in einem Drama endete.

Jetzt lebt auf dieser abgeschiedenen Alm ihre Cousine Johanna, eine sonderbare Frau, in deren Pullover als Jugendliche Ratten wohnten und die irgendwann das Sprechen einstellte. Johannas eremitische Existenz stellt den maximalen Gegenentwurf zu dem von Äußerlichkeiten und sozialen Verpflichtungen geprägten Leben der Ich-Erzählerin dar. Natürlich ist Johanna vom nächtlichen Einbruch der Cousine in ihre hermetisch behütete Welt alles andere als begeistert. Und so lautet ihre erste Frage auch: „Wie lange bleibst du?“

Das Cover zu „Wild wuchern“Das Cover zu „Wild wuchern“Verlag

Das einsame einfache Bergleben auf einer Alm im Takt der Natur und von Tieren umgeben, die bald zu Seelenverwandten werden, gehört zu ­jenen romantischen Vorstellungen, denen sich vom Dröhnen der Zivilisation ermüdete Großstädter gerne hingeben. Diesen naiven Traum eines harmonischen, geläuterten Daseins in der Natur streift Köllers eigensinnige, zwischen Schroffheit und Poesie changierende Prosa glücklicherweise nicht einmal. Die im Roman geschilderten täglich anstehenden Arbeiten, das Melken der Ziegen, das Holz­hacken, die Reparaturen an der Hütte, das Mähen der Wiese – nichts von alldem möchte man tun, weil allein bei der Vorstellung der Rücken schmerzt. „Ich muss Holz nachlegen. Das ist gar nicht so leicht. Mich aufzurichten ist gar nicht so leicht und aus dem Bett zu kriechen auch nicht. Ich krieg die Ofentür nicht auf und verbrenn mir dann auch noch die Finger. Es zischt und stinkt. Schließlich sink ich zurück in das nach Ziegen stinkende Bett und schrecke im Morgengrauen aus dem Schlaf, als Johanna sich wieder aufmacht, um in den Stall zu gehen.“ Ganz zu schweigen von den Gewittern, bei denen es in den Bergen derart kracht und blitzt, dass man fürchtet, jetzt schlüge das letzte Stündlein.

Wie macht man sich unentbehrlich bei jemandem, der allein wunderbar gelebt hat?

Marie, die zum Lächeln und Funktionieren erzogen worden ist, versucht sich geschmeidig in Johannas Alltag einzufügen und macht sich als wortkarge Gehilfin zunutze, will unentbehrlich werden, als hätte Johanna nicht ganz wunderbar ohne sie gelebt. Sie rollt eifrig Felsbrocken, die zu einer Mauer aufgeschichtet werden, mäht die Wiese und beschützt die Spinnennetze beim Aufräumen. Verbiegt sich, wie sie es lange Zeit im Tal getan hat. Ein Anpassungsprofi. Aber in Marie brodelt die Wut, wuchert es wild.

Die Annäherung der beiden Frauen erzählt Katharina Köller ohne Sentimentalitäten und Kitsch; es ist ein Ringen um Worte, ein seelischer Kraftakt, schmerzvoll und befreiend, wenn auch nicht erlösend. Verwundete sind am Ende beide Frauen. In der Stube kommt es eines Abends zur Konfrontation: „Sie versucht sich an mir vorbei zu kämpfen, aber es fällt mir seltsam leicht, sie festzuhalten. Das hab ich auch nicht gewusst, dass es einfacher ist, sich jemandem in den Weg zu stellen, als selbst abzuhauen. ‚Du bleibst hier und redest mit mir.‘ Ich drück mich gegen die Tür. ‚Lass mich gehen‘, schnaubt sie und will mich wegschieben. ‚Nichts da‘, zisch ich zurück.“ Die Wahrheit ist dem Menschen zumutbar.

Geschickt legt Katharina Köller immer wieder Fährten, deutet an, webt Unheimliches in ihre Geschichte ein und entfaltet einen fast thrillerhaften Sog. Ihr Stil, dessen poetische Kraft insbesondere auf den Naturschilderungen fußt, lässt sich zwar nicht mit Marlene Haushofers Prosa vergleichen, trotzdem denkt man beim Lesen bisweilen an deren meisterhaften Roman „Die Wand“. Das Ende von „Wild wuchern“, so viel sei hier verraten, ist jedenfalls ein Paukenschlag.

Katharina Köller: „Wild wuchern“. Roman.
Penguin Verlag, München 2025. 208 S., geb, 22,– €.

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