Missing Link: Tim Berners-Lee wird 70 – der Architekt des World Wide Webs

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Herzlichen Glückwunsch zum 70., Sir Tim! Und ja, Ihnen unter anderem verdanken es viele Leser, dass sie heute Morgen als Erstes aufs Smartphone geschielt, sich durch soziale Netzwerke geklickt, die Nachrichten auf dem Rechner studiert oder sich in den Weiten der Wikipedia verstiegen haben. Denn ohne Tim Berners-Lee, den Vater des World Wide Web (WWW), der heute seinen 70. Geburtstag feiert, gäbe es das alles nicht. Oder zumindest nicht so, wie wir es kennen. Der unprätentiöse Brite hat während seiner Zeit an der Europäischen Organisation für Kernforschung CERN in Genf Ende der 1990er mit ein paar Zeilen Code und einer genialen Idee das Fundament für ein globales Netzwerk gelegt, das unsere Welt fundamental verändert hat. Eine Leistung, die im Rausch der Apps und Algorithmen allzu leicht vergessen wird.

In der heutigen Welt überrollt eine technische Innovation die nächste. Doch auch in ihr gibt es Pioniere, deren Werk so grundlegend ist, dass wir es kaum noch wahrnehmen. Weil es einfach da ist, allgegenwärtig und für viele unverzichtbar. Der Name Berners-Lee dürfte vielen gar nicht geläufig sein. Seine Schöpfung durchdringt aber fast jede Facette des vernetzten Lebens. Der 1955 in London Geborene ist ein stiller Revolutionär. Er ist nicht der Gründer von Google, Facebook oder Apple. Aber er ist der Mann, der die Basis dafür legte, dass es diese großen Internetkonzerne überhaupt geben kann.

Was fehlt: In der rapiden Technikwelt häufig die Zeit, die vielen News und Hintergründe neu zu sortieren. Am Wochenende wollen wir sie uns nehmen, die Seitenwege abseits des Aktuellen verfolgen, andere Blickwinkel probieren und Zwischentöne hörbar machen.

Es ist leicht, sich im Dickicht der Datenkraken und Algorithmen zu verlieren und zu vergessen, wer einst das Fundament für einen wichtigen Teil unseres digitalen Universums legte. Berners-Lee ist kein schillernder Tech-Mogul wie Elon Musk, kein medialer Superstar wie Steve Jobs oder Bill Gates. Er ist der Architekt einer offenen und freien digitalen Welt, der bis heute unermüdlich für seine Überzeugungen streitet. Und mit diesem Ringen ist bei ihm mit 70 noch lange nicht Schluss.

Es war der 12. März 1989, als Sir Tim am CERN ein scheinbar unscheinbares Dokument auf den Tisch legte: "Information Management: A Proposal". Sein Arbeitgeber hatte damals wohl kaum eine Ahnung, welche Lawine dieses Papier lostreten würde. Konkret kommentierte sein Chef, Mike Sendall, die Vorlage kurz und knapp mit "Vage, aber aufregend." Ein ziemliches Understatement, wie sich später herausstellen sollte. Die Idee war geboren: Ein Hypertext-basiertes System, das den weltweiten Austausch und die Aktualisierung von Informationen zwischen Wissenschaftlern revolutionieren sollte.

Ein Jahr später, im Jahr 1990, konkretisierte der Physiker diese Vision gemeinsam mit seinem Kollegen, dem belgischen Informatiker Robert Cailliau in einem Konzept für ein echtes, weltweites Hypertext-Projekt: das Computerprogramm Enquire war die Keimzelle dessen, was wir heute als World Wide Web kennen.

Es lässt sich kaum oft genug betonen: Berners-Lee entwickelte nicht nur die theoretischen Grundlagen des WWW. Er lieferte auch die Blaupausen und baute die ersten Prototypen eigenhändig. Mit dem HTTP-Protokoll (Hypertext Transfer Protocol) schuf er die Sprache, mit der Webserver und Browser kommunizieren. Mit HTML (Hypertext Markup Language) definierte er das Format, in dem Webseiten geschrieben werden. Und mit dem ersten Webbrowser und -editor, schlicht "WorldWideWeb" genannt, legte er das Fundament für die grafische Benutzeroberfläche, die wir heute kennen. Den ersten Webserver CERN httpd entwickelte er unter dem Betriebssystem NeXTStep auf einem NeXTcube-Computer.

Das Wichtige dabei: Der Softwareentwickler hat seine Erfindung nicht für sich behalten. Das CERN gab das Web im April 1993 für die Öffentlichkeit frei und verzichtete auf Patente und Lizenzgebühren. Eine Entscheidung, die sich angesichts der heutigen Monopolisierungstendenzen im Netz gar nicht hoch genug schätzen lässt. Das Web sollte ein offenes und freies System sein, für alle zugänglich, von allen nutzbar. Ein Gegenentwurf zu kommerziellen Online-Diensten wie Compuserve oder AOL, die damals die Landschaft dominierten.

Berners-Lees Engagement endete bei Weitem nicht mit der Geburt des Webs. Seitdem kämpft er unermüdlich für dessen ursprüngliche Ideale. Als Gründer und Direktor des World Wide Web Consortiums (W3C) am Massachusetts Institute of Technology (MIT) wacht er über die technischen Standards des Webs. Auch dort vertritt er die Maxime, nur patentfreie Vorgaben zu verabschieden. Sir Tim gilt ferner als vehementer Verfechter der Netzneutralität, der Freiheit des Informationsflusses und der Wahrung der Privatsphäre im digitalen Raum. Er kritisiert die Machtkonzentration bei Tech-Giganten, die Sammlung und Verwertung persönlicher Daten und Zensur im Netz.

Sein jüngstes Projekt, Solid (Social Linked Data), soll Nutzern die Kontrolle über ihre eigenen Daten zurückgeben – eine dezentrale Vision als Gegenentwurf zur heutigen Cloud-Monopolisierung. Beispielsweise auf dem WeAreDevelopers World Congress in Berlin 2023 stellte Sir Tim seine entsprechende Idee für die Weiterentwicklung des World Wide Web einem größeren Publikum vor. Zentral sind für ihn demnach dezentrale Konzepte. Die Idee hinter der von ihm initiierten Open-Source-Plattform Solid ist, dass jeder User seine Daten in persönlichen Speichern (Pods) verwaltet und selbst entscheidet, welche Anwendungen oder Dienste Zugriff darauf haben. Dies soll eine Alternative zum Modell der Datenspeicherung und -nutzung durch zentrale Anbieter bieten.

Für die Umsetzung von Solid hat der Erfinder das Startup Inrupt gegründet. Das Unternehmen soll etwa eine globale "Single Sign-On"-Funktion entwickeln, mit der sich jeder von überall aus bei Webdiensten anmelden kann. Auch damit arbeitet der Macher daran, Datensilos zu öffnen. Im Juli 2024 veröffentlichte Inrupts mit der "Data Wallet" eine wichtige Kernfunktion für eine universelle-Infrastruktur für digitale Brieftaschen. Die Spezifikationen für Solid werden parallel weiterhin im Rahmen einer Arbeitsgruppe des World Wide Web Consortium (W3C) standardisiert. In einem belgischen Pilotprojekt können in Belgien Bürger Pods bereits nutzen, um Bildungsdiplome für Bewerbungen bei Arbeitsämtern zu speichern und zu teilen. Auch im Gesundheitswesen sehen Experten Potenzial für das System.

2022 stellte Sir Tim klar, dass er die dezentrale Datenbanktechnik Blockchain nicht als die praktikabelste Lösung für den Aufbau der nächsten Generation des Internets erachtet. "Ignorieren Sie den Web3-Kram", riet er dem Publikum damals auf dem Web Summit in Lissabon. Der Informatiker bezeichnete es demnach als "echte Schande", dass "die Ethereum-Leute" die bereits existierende Bezeichnung Web3 "für die Dinge" übernommen hätten, "die sie mit Blockchain machen". In Wirklichkeit sei diese Form des Web3 "gar nicht das Web".

Berners-Lee monierte, dass viele Beobachter einschlägige Blockchain-Techniken mit dem umfassenderen, von ihm mitgeprägten Konzept "Web 3.0" verwechselten. Dessen ursprünglicher Ansatz war der Aufbau eines semantischen Webs, das mit Daten angereichert ist, die maschinell ausgelesen und verarbeitet werden können. Die Web3-Initiative basiert dagegen auf der Distributed-Ledger-Technologie (DLT), die etwa Blockchain, Kryptowährungen wie Bitcoin und Ethereum sowie Nonfungible Tokens (NFTs) umfasst.

Ein grundsätzlicher Feind von Blockchain-Applikationen ist der Vater des Webs nicht. So ließ er 2021 seinen ursprünglichen WWW-Quellcode vom Auktionshaus Sotheby's als NFT versteigern. Dazu signierte er die Dateien mit den originalen Zeitstempeln. Die Auktion für das digitale Kunstwerk brachte 5,43 Millionen US-Dollar ein, die an gemeinnützige Initiativen fließen sollten. Auch beim aktuellen Hype-Thema Künstliche Intelligenz (KI) gibt sich Sir Tim pragmatisch: Er hat nichts gegen deren Einsatz, um etwa die Probleme der nächsten Generation zu bewältigen. Ihm ist es aber hier ebenfalls wichtig, dass die Privatsphäre dabei gewahrt bleiben kann.

Von einem seiner Babys hat sich der WWW-Architekt jüngst getrennt: Nach 15 Jahren machte er im Herbst die von ihm gegründete World Wide Web Foundation dicht. Ihr Ziel war das Einstehen für ein Internet, das "sicher, vertrauenswürdig und leistungsfähig für alle ist".

Über die Einrichtung trieb Berners-Lee vor allem seine Idee von 2018 voran, einen neuen Gesellschaftsvertrag fürs Web zu schaffen. Die "Magna Charta" sollte helfen, Missstände wie Hass, staatliches Hacken und Cybercrime durch den Aufbau starker Online-Gemeinschaften zu bekämpfen. Sie richtete sich auch gegen Geschäftsmodelle rund um Desinformation. Die Bundesregierung stellte sich2018 hinter diesen Pakt. Die fertige Version stand im Mittelpunkt des Internet Governance Forum (IGF) der Uno in Berlin 2019. Es gelte, das Web als Macht des Guten wieder auf die Spur bringen, hob Sir Tim damals hervor. Prinzipien daraus flossen in die Erklärung zur Zukunft des Internets ein, die die USA und die EU 2022 gemeinsam mit Partnern veröffentlichten.

Mit 70 Jahren ist Berners-Lee immer noch eine der wichtigsten moralischen Instanzen der digitalen Welt. Er ist der lebende Beweis dafür, dass es sich lohnt, für die Ideale der Offenheit und Freiheit zu streiten – gerade in Zeiten, in denen diese immer stärker unter Beschuss geraten.

(nen)

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