Merkel als Ostdeutsche: Ihr früheres Leben auf der Kante

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Diese Herrscherin hat zwei Körper. Einen ostdeutschen und einen bundesrepublikanischen. Beide sind ungefähr gleich alt. Die Symmetrie, der unbedingte Wunsch nach Gleichgewicht, ist entscheidend in diesem Leben. Vielleicht sogar das Entscheidendste. Wenn sie verloren geht, dann wird das im Rückblick als Jugendsünde deklariert: „Im Morgengrauen saß ich mit einem Freund auf einem Ruderkahn, wir hatten reichlich Kirsch-Whisky konsumiert. Plötzlich stand der Freund ohne jede Ankündigung auf, das Boot geriet ins Schwanken. Ich fiel ins Wasser.“

Angela Merkels Großvater stammt aus Posen, aus derselben Stadt wie der ein Jahr vor ihm geborene Historiker Ernst Kantorowicz, von dem die geflügelte Unterscheidung der „zwei Körper des Königs“ stammt: ein natürlicher, sterblicher, und ein übernatürlicher, unsterblicher.

Es gibt die Frau, und es gibt das Amt. Bei Angela Merkel gibt es auch noch die Person und die Prägung. Lange hat sie sich nur als Person präsentiert, hat aus ihrer Herkunft kein Kapital geschlagen. Nur im Ausland hat sie hin und wieder über ihre verschiedenen Körper gesprochen, hat vorsichtig darauf hingewiesen, dass es einmal zwei deutsche Staaten gegeben habe und sie selbst als Passagenwesen zwischen beiden Welten zu betrachten sei.

Neues ostdeutsches Selbstbewusstsein

Erst ganz am Ende ihrer Kanzlerschaft, 2021 bei einer Rede zum Einheitstag in Halle, brach es schließlich aus ihr heraus, machte sie ihr Leben in der DDR zum Thema und ihre Partei zum ignoranten Besserwessi, der ihr Aufwachsen im Sozialismus pauschal als „Ballast“ verunglimpfte. Erstaunlicherweise setzt sich diese Ignoranz in diesen Tagen fort: Denn wenn der Großteil der politischen Beobachter sich jetzt darüber enttäuscht zeigt, wie wenig politisch und wie langatmig biographisch Merkels Memoiren seien, dann verkennen sie die signifikante Bedeutung der die DDR-Zeit behandelnden Kapitel im Zeichen eines neuen ostdeutschen Selbstbewusstseins.

Die Bundesfrauenministerin Angela Merkel (CDU) lacht am 03.05.1992 als Teilnehmerin an der Abschlußveranstaltung des dreitägigen 29. Deutschlandtreffens der Pommern auf dem Alten Markt von StralsundDie Bundesfrauenministerin Angela Merkel (CDU) lacht am 03.05.1992 als Teilnehmerin an der Abschlußveranstaltung des dreitägigen 29. Deutschlandtreffens der Pommern auf dem Alten Markt von StralsundPicture Alliance

Keine intellektuelle Debatte hat in den vergangenen Monaten mehr Wirkung erzielt als jene um die Charakteristika ostdeutscher Prägung. In diese Debatte mischt sich Angela Merkel nun mit Verve ein. Selbstbewusst stellt sie zum ersten Mal ihren bislang verschleierten ostdeutschen Körper aus. Es ist ein Körper, der weder die Merkmale des Helden noch die Symptome des Kollaborateurs aufweist. Es ist viel eher eine durchschnittlich mitlaufende, sich hier und da arrangierende, hin und wieder auch opponierende Gestalt, die sich aus Merkels Selbstbetrachtung ergibt.

Authentisch ambivalent

Schon die Deutung ihrer Herkunft aus einem Pfarrhaushalt ist authentisch ambivalent: Einerseits schreibt sie über ihren Vater, dass er bis zum Schicksalsjahr 1968 „immer dafür eingetreten war, sich nicht in Gegnerschaft zur DDR zu verlieren, sondern ihr aufgeschlossen gegenüberzustehen“, andererseits schildert sie die Schwierigkeiten, die sie erst als Schülerin und später als Studentin wegen ihres per se der Opposition verdächtigten Elternhauses bekam.

Merkel, die in ihrem Buch nie den Anschein erweckt, zu den Mutigen der friedlichen Revolution gehört zu haben, schildert gleichwohl, wie sie die Willkür des diktatorischen Staates als beängstigend empfand und findet dafür den Ausdruck eines „ständigen Lebens auf der Kante“. Sie beschreibt, wie sie als Zwölftklässlerin wegen der eigenständigen Änderung eines Kulturprogramms bei ihrer Mutter die Sorge hervorrief, nicht mehr „anerkannt“ zu sein. In dieser Angst vor dem Verlust von „Anerkennung“ spiegelt sich der Albdruck, der auf einer Gesellschaft lastete, in der Vertrauen als Währung wenig Tauschwert besaß.

Später beschreibt Merkel, wie sie in Ilmenau als IM angeworben werden sollte, Kulturfunktionärin der FDJ wurde und aus einem Hörsaal flog, weil sie der Marxismus-Leninismus-Vorlesung nicht aufmerksam genug folgte: „Beim Schreiben dieser Zeilen spüre ich die gesamte Peinlichkeit der Szene. Aber zugleich habe ich heute noch ein anderes Gefühl dabei: Überlegenheit in Bezug auf die Einschüchterungsversuche eines Staates, der seinen Bürgern und vor allem sich selbst niemals traute.“

Das wird für den zweiten Körper später entscheidend sein: dieses Gefühl, auf Einschüchterung mit Überlegenheit reagieren zu müssen. Sich von keiner Seite so schnell umstürzen zu lassen, eben das Gleichgewicht zu bewahren. Merkels Memoiren zeugen vom Glück einer Ostdeutschen, die ihren Lebensweg nicht trotz, sondern wegen ihrer Herkunft so beschritten hat. Das mag für die deutsche Öffentlichkeit gerade nicht spektakulär genug sein – für die Geschichte dieses Landes ist es das aber doch.

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