„Materialists“ im Kino: Deine Liebesliste zeigt deinen Preis an

vor 10 Stunden 1

Wer im heutigen Amerika aus der Suche nach Liebe ein Geschäft machen will, muss lügen. Lucy weiß das, denn sie ist sehr gut darin. „Ich verspreche dir, du wirst die Liebe deines Lebens heiraten“, sagt die Heiratsvermittlerin ihrer Klientin Sophie. Und man nimmt ihr fast ab, dass sie die Worte selbst glaubt, so bestimmt und zugleich einfühlsam wirkt das. Dabei hat sie kurz vor dem Treffen mit ihrer Klientin ein Telefonat mit deren Date geführt und einen unschönen Korb für sie kassiert. Der Mann empörte sich: „Sie ist vierzig und fett, bei der hätte ich niemals nach rechts geswiped.“ Dating ist hart. Aber wenn man über genug Geld verfügt wie Sophie, leistet man sich eben Leute, die dem Liebesleben ein paar Stacheln ziehen und einem die Optionen fürs Anbandeln als manierlich gestutzten Rosenstrauß ohne Dornen präsentieren – man engagiert also jemanden wie Lucy.

Der Plot von „Materialists – Was ist Liebe wert“ klingt wie eine weitere seichte amerikanische Liebeskomödie, unter den Händen der kanadischen Regisseurin Celine Song aber wird die unromantische Realität des Dating- und Heiratsgeschäfts ohne Scheu vor Scheußlichkeiten viviseziert. Song, die als Autorin für ihr Drehbuch zum Drama „Past Lives“ (2023) eine Oscarnominierung errang und auch für den neuen Film das Skript selbst schrieb, erlaubt sich gleich zu Beginn Dialoge von härtester Klarheit.

„Heirat ist ein Geschäftsdeal“

So eilt Lucy ins Zimmer einer Braut, die kurz vorm Ja-Wort von Zweifeln geplagt auf dem Bett liegt, und versucht sie zu beruhigen: „Heirat ist ein Geschäftsdeal, und du kannst immer gehen, wenn der für dich nicht funktioniert.“ Sie müsse das jetzt durchziehen, antwortet die schluchzende Braut, ihre Familie habe ein kleines Vermögen in die Hochzeit investiert. Lucy legt den Arm um die Frau, schaut ihr in die Augen und verspricht ihr, alles nun Gesagte streng vertraulich zu behandeln, bevor sie nach dem wahren Grund fragt, aus dem die Braut heiraten will. „Er macht meine Schwester eifersüchtig. Sie denkt, er sei besser als ihr Ehemann – und dann fühl ich mich, als hätte ich gewonnen.“ Lucy versteht das nicht mit dem Herzen, sondern mit dem Werbeprofihirn: Also gibt er dir das Gefühl, wertvoll zu sein.

DSGVO Platzhalter

Songs Dialoge nehmen es mit Leichtigkeit mit dem Tempo, dem Witz und der Schärfe auf, die man in den Screwball-Komödien von Howard Hawks aus den Dreißiger- und Vierzigerjahren findet. Wie Hawks die besten Schauspieler seiner Zeit in Rededuelle verwickelte, etwa Katharine Hepburn auf Cary Grant losließ, bedient sich Song bei den größten Talenten, die Hollywood ihr derzeit zu bieten hat, vorneweg mit ihrer Lucy. Die gibt Dakota Johnson, der hier der Spagat gelingt, den analytischen Verstand in Aktion zu zeigen, ohne dabei je gefühlskalt zu wirken und auch sonst mit verlässlichem Sicherheitsabstand zu jedem Klischee. Johnson verwirklicht einen komplexen Charakter, der seine eigenen, hart erarbeiteten Überzeugungen im Laufe der Handlung mehrfach infrage stellen muss. Denn natürlich will diese junge Frau auch für sich selbst den besten Deal aus dem Hochzeitsgeschäft herausholen.

Die Chance dazu taucht in Person Pedro Pascals an ihrem Tisch auf, als unsagbar reicher, kultivierter Geschäftsmann auf der Suche nach einer Partnerin. Er erfüllt alle ihre Wunschkriterien und kann sogar mit ihrem Humor mithalten; er verspricht, „dass Sie sich mit mir nicht langweilen“.

Chris Evans spielt den Aushilfskellner

Natürlich, denn wir sind hier ja in einer Liebeskomödie, bedient die beiden ausgerechnet bei diesem ersten Kennenlernen Lucys Ex-Freund – Chris Evans spielt diesen Aushilfskellner, der eigentlich Schauspieler werden will, noch immer in einer WG wohnt und die Miete mit Gastrojobs finanziert. Alle drei Hauptdarsteller umarmen ihre Rollen. Evans lässt seinen Blick beim Gespräch mit der ehemaligen Liebsten immer wieder über deren Gesicht wandern; die Augen sprechen von etwas, das längst nicht erloschen ist. Johnson steht nach dem Wiedersehen wie vom Blitz gerührt an ihrem Stuhl, ein paar Sekunden zu lang schaut sie dem früheren Freund hinterher. Und Pascal poliert seinen Charme mit der glatten Dreistigkeit, die geerbtes Vermögen verleiht.

Weil sie sich auf die drei Stars verlassen kann, hat Song alle Hände frei für Inszenierungsexperimente. Das Kennenlernen mit dem reichen Junggesellen etwa schneidet sie als fortlaufenden Dialog zwischen den beiden, während die Räumlichkeiten um sie herum von einem exquisiten Restaurant zum anderen wechseln – vier Dates zählt man so nebenbei, bevor Pedro mit roten Rosen um Exklusivität bittet.

Solche Ideen setzt Song zum Glück sparsam ein, was sie umso wirkungsvoller macht. Gleich im Vorspann sehen wir Johnson dabei zu, wie sie Puder auf ihre Wangen pinselt, Farbe auf ihre Lippen tupft, das Gesicht dabei mehrfach reflektiert von diversen Schminkspiegeln, ein kleiner symbolischer Hinweis auf die Fassade, die ihre Figur nach außen präsentiert, die aber mit ihrer Identität womöglich nicht im Einklang steht. Und wenn Lucy ihrer Chefin erklärt, dass ihr Zweifel an der Sinnhaftigkeit ihres Jobs kommen, sieht man durch die großen Glaswände des Büros hinter diesem Gespräch die restliche Agenturbelegschaft vor Freude von den Stühlen hüpfen, weil eine Klientin einen Heiratsantrag erhalten hat.

Seit Jane Austen wissen die guten Liebesgeschichten von der „allgemein anerkannten Wahrheit“, dass Hochzeiten eng mit finanziellen Überlegungen verbunden sind – selbst in den erwähnten Screwball-Komödien spielten die materiellen Verhältnisse der Protagonisten immer eine Rolle. Song knüpft entschlossen daran an und überführt es ins 21. Jahrhundert: Ihre Figuren stehen nicht nur vor der Frage, wie viel Geld vorhanden sein muss, um darauf den Bund fürs Leben zu gründen, sondern gehen auch durch stachlige Gegenden, auf denen weitere Kosten anfallen – eine von Lucys Klientinnen wird nach Stalking und sexueller Belästigung Anzeige erstatten; vor allem aber wird die Überlegung angestellt, was geschieht, wenn die Einkommensverhältnisse sich umkehren. Wie kommen die Männer damit klar, wenn die Frau mehr verdient als sie? Lügen, lernt Lucy schnell, ist auch in diesem Punkt keine gute Idee.

Gesamten Artikel lesen