Beim Flanieren durch Saint-Germain-des-Prés fällt sie sofort ins Auge: Eine nackte Frauenbrust prangt auf schwarzem Samt im Schaufenster der Rue Jacob Nummer 36. „Bitte berühren“ heißt das von Marcel Duchamp mit Schaumstoff plastisch gestaltete Umschlagbild für die Deluxe-Ausgabe des Ausstellungskatalogs „Le Surrealisme en 1947“. Der Anblick verlockt zum Betreten der Pariser Galerie Dina Vierny. Seit ihrer Gründung, gleichfalls im Jahr 1947, zeigt sie sich im unveränderten Dekor mit einer geflochtenen Holzverkleidung von Auguste Perret. Wie in einer Zeitkapsel sind hier rund zwanzig Werke Duchamps zu einer Retrospektive en miniature versammelt. „L’art d’être à l’étroit“ (Die Kunst, sich in der Enge einzurichten) lautet der selbstironische Ausstellungstitel.
„Bitte berühren“: Marcel Duchamps plastisch gestaltetes Umschlagbild für den Ausstellungskatalog „Le Surrealisme en 1947“.Galerie Dina Vierny / VG Bild-Kunst, Bonn 2025Das Prinzip der Verschachtelung im übertragenen und wörtlichen Sinne findet sich in zentralen Werken wie der Kofferschachtel „La Boîte en valise“ in der Version F von 1966, welche Reproduktionen der eigenen Hauptwerke im praktischen Handgepäck verstaut. Auf der Suche nach dem Original bewegt man sich bei dem Erfinder des Ready-mades immer auf unsicherem Terrain. Zu den frühesten ausgestellten Werken zählt die Karikatur einer androgynen Gestalt von 1909. Als Vorwegnahme der bärtigen Mona Lisa „L.H.O.O.Q“, die in drei Varianten vertreten ist, entzieht die Kunst Duchamps sich jeder Zuordnung – subversiv, humorvoll und herrlich sinnlos (180.000 Euro). Eine Rarität ist die Glasphiole von 1960, die im Keller kostbar unter einem Glassturz inszeniert wird und laut Etikett „50 cc air de Paris“ enthält. Wer diesen Hauch französischen Esprits erwerben will, muss 1,3 Millionen Euro zahlen.
„50 cc air de Paris“: Zur Kostbarkeit wird dieses Werk von Marcel Duchamp auch durch den Preis.Galerie Dina Vierny / VG Bild-Kunst, Bonn 2025Mit Blick auf die kommenden Duchamp-Retrospektiven im Museum of Modern Art in New York, dem Philadelphia Museum of Art und dem Centre Pompidou in Paris ist die Ausstellung nicht mehr als ein Aperçu. Ihren Reiz verdankt sie nicht zuletzt dem authentischen Flair und der Historie der Galerie, die in dritter Generation von Enkeln der Gründerin geführt wird. 1919 im kurz zuvor rumänisch gewordenen Bessarabien geboren, kam Dina Vierny jung nach Paris, wo sie für Aristide Maillol Modell stand. Während des Zweiten Weltkrieges engagierte sie sich in der Résistance. Als sie deswegen in Haft geriet, konnte Maillol ihre Freilassung mithilfe seines deutschen Bildhauerkollegen Arno Breker erwirken. Nach dem Krieg eröffnete sie mit einer Maillol-Ausstellung ihre Galerie. Noch heute kann man in ihr reinste Pariser Luft atmen.
Marcel Duchamp, Galerie Dina Vierny, Paris, bis zum 8. November

vor 11 Stunden
1









English (US) ·