Mehr als 400 Mitarbeiter der „Washington Post“ haben in einem Brief an den Eigentümer des Blattes, Jeff Bezos, ihre „tiefe Beunruhigung über jüngste Entscheidungen der Führungsetage“ zum Ausdruck gebracht, „die die Leser die Integrität dieser Institution infrage stellen lassen, die mit der Tradition der Transparenz brechen, und die zum Abgang einiger unserer angesehensten Kollegen geführt haben.“
Die Verfasser drängen Bezos zu einem Redaktionsbesuch, um das Gespräch mit der Belegschaft des Blattes über eine „klare Vision, der wir uns verschreiben können“ zu suchen.
Brief sollte eigentlich intern bleiben
Der Brief war als interne Botschaft, nicht als öffentliche Anklage gedacht, aber am Mittwoch veröffentlichte der Medienreporter David Folkenflik des öffentlichen National Public Radio (NPR) ihn im Rahmen einer kritischen Geschichte über das erste Jahr des „Post“-Chefs Will Lewis: „Kündigungen, rote Tinte und ein Exodus“. Mit dem Brief sei die seit langem herrschende Frustration über den Kurs des Blattes übergekocht, schreibt Folkenflik. Unterschrieben haben führende Redakteure der „Post“, darunter auch der Chefkorrespondent Dan Balz.
Die „Washington Post“ ist im vergangenen Jahr von einem Skandal nach dem anderen geschüttelt worden. Der Eigentümer und Amazon-Gründer Bezos hatte mit Will Lewis einen umstrittenen neuen Herausgeber ernannt. Lewis umwehen Skandale aus seiner Zeit bei den englischen Publikationen Rupert Murdochs. Dazu zählt der Vorwurf, er habe die Aufklärung des Abhörskandals von 2011 gezielt behindert. Dass Lewis im Frühsommer offenbar versuchte, die Berichterstattung der „Post“ über seine Rolle in dem Skandal zu unterdrücken, kostete ihn weiteres Vertrauen in der Redaktion; ebenso, dass seine geplante Ernennung von Robert Winnett, eines Weggefährten aus britischen Zeiten, als neuem Chefredakteur scheiterte.
Bezos kippte die Empfehlung für Kamala Harris
Als kurz vor der Präsidentschaftswahl im November bekannt wurde, dass Bezos eine bereits verfasste Empfehlung für Kamala Harris gekippt hatte, kündigten 250.000 Abonnenten und mehrere renommierte Journalisten des Blattes, das auch wegen des Abonnenten-Exodus ein Minus von 100 Millionen Dollar zum Jahresende schlucken musste.
Medienberichten zufolge gab Lewis seinen Redakteuren die Schuld: Niemand interessiere sich für ihre Arbeit, sie sollten ihre Berichterstattung überdenken. Anfang Januar kündigte die berühmte Karikaturistin Ann Telnaes, weil eine Zeichnung von ihr, die Jeff Bezos vor Trump knieend zeigte, nicht gedruckt worden war. Der Chefredakteur Matt Murray teilte derweil mit, man werde künftig nicht mehr über Vorgänge im eigenen Haus berichten – ein Bruch mit der Tradition amerikanischer Pressehäuser, auch über Unstimmigkeiten in Redaktion und Verlag offen zu informieren.
Auch das erscheint als weitere Unterwerfungsgeste von Jeff Bezos vor Donald Trump, der seinen Kritikern in der Presse mit Vergeltung droht und dessen Regierung über Milliardenverträge mit Bezos’ Unternehmen entscheiden wird. Für Trumps Amtseinführung hat Bezos eine Million Dollar gespendet. Die Amazon Studios haben derweil eine Dokumentation über Melania Trump angekündigt, die diese mitproduziert. Mit Selbstbeweihräucherung ist zu rechnen.
Die Verfasser des Briefs betonen, es ginge ihnen nicht nur um die schlagzeilenträchtige Blockade der Empfehlung für Kamala Harris – das sei das „Vorrecht des Eigentümers“. Ihnen gehe es darum, „die Wettbewerbsfähigkeit des Blattes zu erhalten, verlorenes Vertrauen und das Verhältnis zur Blattleitung in offener Kommunikation wiederherzustellen“.
Bezos äußerte sich zunächst nicht dazu. Unterdessen hat die Chefstrategin des Blattes, Suzie Watford, Medienberichten zufolge, leitenden Mitarbeitern der „Post“ ein neues Leitbild vorgestellt: „Riveting Storytelling for All of America“ laute jetzt die Losung, etwa: „Fesselnde Geschichten für ganz Amerika“.
Der „New York Times“ zufolge soll der Slogan das derzeitige Titelseiten-Motto „Democracy Dies in Darkness“, unter dem man seit Trumps erster Amtszeit firmiert, zwar nicht ersetzen. Doch müsse man, so Suzie Watford, „Interessen im ganzen Land verstehen und repräsentieren“ und „ein Forum für Blickwinkel, Expertenperspektiven und Konversationen bieten.“ Auf lange Sicht wolle man so 200 Millionen „Nutzer“ gewinnen. Bei zahlenden Abonnenten liegt die „Post“ der Webseite Statista zufolge mit 2,5 Millionen auf Platz drei hinter dem „Wall Street Journal“ (3,5 Millionen) und der „New York Times“ (9,4 Millionen).