Komponist Toshio Hosokawa: Was Japan uns zu sagen hat

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Weil die Handlung der Oper „Stilles Meer“ in der vom Tsunami verwüsteten Gegend von Fukushima angesiedelt ist, stand für viele Besucher der Hamburger Uraufführung 2016 fest: Eine Anti-AKW-Oper! Doch solche plakativen politischen Aussagen liegen Toshio Hosokawa fern. In seinem Bühnenwerk, das auf das Nō-Stück „Sumidagawa“ zurückgreift, in dem eine Mutter ihren Sohn betrauert, ging es um eine tiefere Problematik: die Stellung des Menschen in der Natur. „Meine Musik entsteht in tiefem Einklang mit der Natur“, sagt Hosokawa. Der Mensch soll die Natur respektieren und fürchten, denn beim Versuch, sie zu dominieren, werde sie letztlich zerstört. Wasser ist für ihn eine Metapher für menschliches Leben, „es entsteht im Meer und kehrt dorthin zurück“. In seiner Oper übergeben die Dorfbewohner, der alten japanischen Zeremonie des „tōrō nagashi“ folgend, dem Meer Papierlaternen, Sinnbilder für die Seelen der Toten. Die atomare Verseuchung des Wassers vor Fuku­shima ist aus dieser Sicht deshalb auch ein Angriff auf die geistig-religiösen Grundlagen des Menschseins.

Zivilisationskritik besitzt bei Hosokawa eminent japanische Züge. Sie zeigt sich auch in der jüngst in Tokio uraufgeführten Oper „Natasha“, die, Dante paraphrasierend, zu einer Wanderung durch die Zivilisationshöllen der Gegenwart einlädt. Das Streben nach einer Synthese von östlichem und westlichem Denken ist im Lauf der Zeit zum Dreh- und Angelpunkt in Hosokawas Komponieren geworden. Mit Ausnahme der in Bremen ­lebenden Koreanerin Younghi Pagh-Paan gibt es gegenwärtig kaum jemanden, der diese Synthese so tiefgreifend praktiziert wie er. Ein Vorbild ist für ihn in dieser Hinsicht der 1996 verstorbene Komponist und Philosoph Tōru Takemitsu. Eine Radioübertragung von dessen Orchesterkomposition „November Steps“ motivierte den damals bei seinen Eltern in Hiroshima lebenden Fünfzehnjährigen, Musiker zu werden.

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Entscheidende Orientierungen auf seinem Weg zwischen den Kulturen erhielt Hosokawa in Deutschland. 1976 begann er in Berlin sein Studium beim koreanischen Komponisten Isang Yun und setzte es sieben Jahre später bei Klaus Huber in Freiburg fort. Beide sollen ihn nach eigener Aussage überhaupt erst auf den Reichtum traditioneller japanischer Musik aufmerksam gemacht haben. Deren Einflüsse zeigen sich seither bei ihm auf allen Ebenen. So kombiniert er gelegentlich die japanische Mundorgel Shō oder die Langflöte Shakuhachi mit europäischen Instrumenten, doch vor allem hat sich die Physiognomie seiner Musik auf charakteristische Weise verändert. Das liegt nicht zuletzt an einem nicht-europäischen Zeitempfinden und an der in der fernöstlichen Philosophie verankerten Idee des Klangs, der wie alles Lebendige aus dem Nichts entsteht und wieder im Nichts endet.

Hosokawas Grundsätze haben sich in den letzten Jahrzehnten auch in einer organisatorischen Vermittlertätigkeit niedergeschlagen. Zu den von ihm geleiteten Musikfestivals, zuerst in Yamaguchi (Akiyoshidai Festival) und heute in der Kleinstadt Takefu, lädt er fernöstliche und westliche Musikschaffende zu Konzerten und Seminaren ein – internationale Begegnungsorte mit Vorbildcharakter. Unterstützt wird er bei seinen Aktivitäten unter anderem vom Musikverlag Schott. Pendelte er früher fast nur zwischen Deutschland und Japan hin und her, so ist er heute weltweit mit Aufführungen und Gastdozenturen präsent, seine Preise und Auszeichnungen gehen inzwischen ins Dutzend. Zu seinem heutigen siebzigsten Geburtstag kann Hosokawa auf ein beachtliches Lebenswerk zurückblicken.

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