In der heutigen englischen Grafschaft Cambridgeshire findet sich zwischen Stamford und Peterborough das Haus, das an den Dichter John Clare in seinem Heimatort erinnert. Helpstone wurde das Dorf zur Zeit des 1793 geborenen bäuerlichen Poeten geschrieben, Helpston seit neuerer Zeit. Soll man den Naturdichter zur Romantik zählen, wie seine Lebensdaten und Veröffentlichungen nahelegen? Ist er dazu nicht viel zu sehr Naturkundler, Realist und Zeitzeuge der lebensverändernden Maßnahmen der herrschenden Schicht, dichterischer Aktivist aufseiten der armen Landbevölkerung?
Seine Lebensumstände hat bereits seine Mitwelt als nicht zur Verklärung einladend beschrieben. Als der Londoner Verleger John Taylor 1820 mit „Poems Descriptive of Rural Life and Scenery“ Clares ersten Gedichtband herausgab, schrieb er im Vorwort, kein anderer Dichter Englands habe unter derart widrigen Umständen solche Fähigkeiten entwickelt. An dem Dorf Helpstone war nichts besonders schön, blühend oder bemerkenswert. Die Dorfbewohner waren arm, die meisten von ihnen konnten weder lesen noch schreiben. Auch Clares Eltern waren Analphabeten, der Vater ein Tagelöhner. Es gab nirgends Bücher, mit denen sich ein hochbegabtes Kind wie John hätte das Lesen selbst beibringen können. Und doch schrieb der Junge im Alter von dreizehn Jahren sein erstes Gedicht: „The Morning Walk“.
Der Mut eines Dreizehnjährigen
In den wenigen Wintermonaten, in denen die bäuerliche Arbeit ruhte, war es ihm gestattet, zur Schule zu gehen. Trotzdem dachte er, am Ende eines Tagesmarsches würde er den Rand der Welt erreicht haben, den „orizon“, den Horizont, der für ihn nahbar war und den Buchstaben h vorne nicht brauchte. Was für eine Anstrengung es für ihn bedeutet haben muss, als Kind mit dem Gefühl, anders zu sein, zurechtzukommen! Mit dreizehn Jahren den Mut zu haben, den eigenen kindlichen schriftstellerischen Eingebungen nachzugehen, ist bemerkenswert.
Was Armut mit Kindern macht, ist gut erforscht und beschrieben. 2020 erst hat Jeremias Thiel sein Buch „KEIN Pausenbrot, KEINE Kindheit, KEINE Chance“ veröffentlicht. Als er es schrieb, war er unwesentlich älter als Clare bei seinem ersten Gedicht: ein Jugendlicher. Wenn man Clares Lebensbeschreibung liest, weiß man, wie es aussah, wenn man um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert keine Kindheit hatte. Aber mehr als zweihundert Jahre später zu erfahren, dass Thiel erst elf Jahre alt war, als er mit seinem Zwillingsbruder allein zum Jugendamt ging, damit sie aus ihrer Familie, in der Armut, psychische Erkrankungen und Abhängigkeit der Eltern die Kinder belasteten, herausgenommen würden, ist schockierend.
In einem Interview hat der Aktivist für Kinderrechte, der im Alter von 14 Jahren in die SPD eintrat, gesagt, dass es ihnen in dem SOS-Kinderdorf, das sie aufnahm, sehr gut ging. Aber die Gitarre, die sich Jeremias Thiel damals wünschte, hat er als Kind nicht bekommen. Musikunterricht lag außerhalb der Möglichkeiten. So überrascht es fast, dass Clare seine Violine bekam. Englische Romanichals unterrichteten ihn im Spielen des Instruments. Dankbar und fasziniert widmete er ihnen das Gedicht „The Gipsy’s Song“, in dem es heißt: „the wild woods are our home“ und wenig später dann: „And our song we sing, and our fiddles sound / Their catgut harmony, / While echo fills the wood around / With gipsy liberty“.
In seinen „Autobiographical Fragments“ berichtet Clare davon, wie gern er mit den Romanichals, den englischstämmigen Roma seiner Gegend, zusammen war: „Ich verbrachte meine Sonntage und meine Sommerabende damit, von ihnen nach Gehör zu lernen, ihre Lieder auf der Geige zu spielen, ich sprang und tanzte und teilte ihre anderen Vergnügungen mit ihnen.“
Dass Clares erster Gedichtband ein Erfolg wurde, liest man in Manfred Pfisters schönem Band „A Language That Is Ever Green“, einem Alterswerk des Anglisten, das eine Gedichtauswahl im Original und in Pfisters Übersetzungen versammelt und mit ausgezeichneten Erläuterungen versieht. Pfister versucht im Deutschen das Reimschema nachzuempfinden. Manchmal aber ist hilfreicher, sich noch einmal eine Friederike-Mayröcker-hafte, proemhaftere Übersetzung anzufertigen. 1845 entstand Clares Gedicht „All Nature has a Feeling“. Pfisters Übersetzung ist zauberhaft, „vergeht“ reimt sich auf „fortbesteht“, „aufzublühn“ auf „immer ziehn“. Das ist geradezu anmutig und macht den Zeitenabstand spürbar, eine respektvolle Distanz wird da eingezogen.
Übersetzt man die im Englischen weniger lieblich, sondern viel sachlicher klingende Dichtung ohne Reime, wird vielleicht deutlicher, was das Naturverständnis der Gegenwart überraschend mit dem Clares verbindet. Er formuliert, worum die Naturschutzbewegung gerade kämpft, bei ihm wird der Subjektstatus des Tiers vorweggenommen, wird jeder Baum als Lebewesen und Individuum wahrgenommen: „Alle Natur ist fühlend: Wälder, Felder, Bäche / Sind ewiges Leben; und sprechen in der Stille / von einem Glück, an das Bücher nicht reichen / Es ist nichts Sterbliches an ihnen; ihr Verfall / Ist das grüne Leben der Verwandlung als ein Dahingehen und eine Rückkehr in wiederbelebter Blüte / Im Himmel geboren zu ewigem Leben / Begleitet von Sonne und Mond / Unter deren Tag und Nacht und weitem Himmel“.
Doch neben dem Vereinenden steht auch, was die Gegenwart nicht mehr kennt: Das Vertrauen in die göttlichen, ewigen Kreisläufe der Natur. Die Angst, dass dem „Stirb“ der Natur nicht mehr das „Werde“ folgt, weil jeden Tag Arten von der Erde verschwinden, die wir nicht zurückbringen können, kannte Clare noch nicht. Seine von den Liedern und Volkssagen nicht nur der Romanichals, sondern auch seiner eigenen Mutter geprägte Dichtung besang den Dachs, die Schnepfe und die Moore, die Stille auf dem Land und das vom Geliebten verlassene Mädchen.
Und er schrieb, in Gedichten, sein ganz eigenes Zurück zur Natur, gegen die politischen Entwicklungen seiner Zeit. Mehrfach schreibt er gegen die damaligen „Enclosures“ an, mit denen bis dahin gemeinschaftlich genutztes Land eingezäunt und allein von Agrarbetrieben bewirtschaftete Nutzfläche wurde, zulasten der Kleinbauern und Tagelöhner, denen das Sammeln von Beeren und Pilzen und Reisig, das Weiden ihrer paar Tiere von da an verboten war. Sie standen vor Zäunen und noch größerer Armut.