Kolumne „Import Export“: Großzügiger Umgang mit zweiten Chancen

vor 2 Tage 4

Hätte mir jemand vor einem Jahr erzählt, der französische Präsident Macron würde den syrischen Islamisten Al-Golani nach Paris einladen und ihm sogar den Eiffelturm zeigen, ich hätte diese Person für verrückt erklärt. Hätte mir jemand erzählt, dieser syrische Islamist würde innerhalb weniger Jahre eine so bemerkenswerte Karriere hinlegen – von Al-Golani zu Al-Scharaa –, vom Al-Qaida-Terroristen zum Anführer von Al-Nusra und HTS und weiter zum selbsternannten Präsidenten Syriens, ich hätte auch diese Person für verrückt erklärt. Und wäre das alles nicht schon verrückt genug, wurde vor ein paar Tagen gemeldet: „Syriens Präsident wird voraussichtlich im September vor der UN-Vollversammlung in New York sprechen“. Der Mann, auf den die USA noch vor einem Jahr ein Zehn-Millionen-Dollar-Kopfgeld ausgesetzt hatten – bald in New York? Ob er sich dort auch die Freiheitsstatue ansehen wird, frage ich mich, oder gar den Ground Zero, den seine Glaubens- und Waffenbrüder ja eigenhändig angerichtet haben? Was lernen wir daraus? Jeder hat eine zweite Chance verdient? Oder: Im Jahr 2025 kann ein ehemaliges Al-Qaida-Mitglied – nicht geläutert, nur die Truppe gewechselt – tatsächlich in New York landen, anstatt in einem Gefängnis?

Diktaturen hält man offenbar für stabiler

Hätte mir das jemand vor einem Jahr erzählt, ich hätte es für eine grottenschlechte Satire gehalten. Bei Al-Golani ist es jedenfalls mindestens die siebzehnte Chance. Aber ich fürchte, es wird auch eine achtzehnte und neunzehnte geben. Wahrscheinlich wird es so viele Chancen geben, wie Al-Golani Chancen braucht. Denn es gab auch nach den Massakern an den Alawiten im März und an den Drusen im Juli noch Chancen. Auch wenn es jedes Mal hieß, Al-Golani müsse die Minderheiten jetzt aber wirklich schützen. Dass seine eigenen Männer nachweislich an den Massakern beteiligt waren, übersah man geflissentlich. Auch nach nächsten und übernächsten Massakern wird es noch Chancen geben. Denn man ist sehr großzügig, was zweite Chancen betrifft, wenn man etwas will. Und von Syrien will man zwar nicht viel, aber auch nicht gar nichts. Ruhe, in erster Linie, ob unter einer Demokratie oder Diktatur, ist dann auch egal, Hauptsache, stabil. Und stabiler erscheint dann doch meist die Diktatur, egal ob eine nationalistische oder eine „gemäßigt“ islamistische.

Ronya OthmannRonya OthmannKat Menschik

Wirtschaftliche Zusammenarbeit will man, denn da, wo viel in Grund und Boden gebombt wurde, gibt es viel aufzubauen und womöglich noch mehr zu holen. Und Flüchtlinge abschieben oder zumindest zur Rückkehr bewegen, das will man natürlich auch – wie die CDU vor einigen Tagen wieder verkündete, ein wenig enttäuscht zwar, weil die Flüchtlinge da nicht so mitmachen, wie man sich das vorgestellt hat. Komisch natürlich, denn wer hätte – außer Islamisten selbst – große Lust, in ein von Islamisten beherrschtes Land zurückzukehren? Das hatte wohl auch der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Alexander Throm, nicht bedacht, als er in einem Interview sagte: „Klar ist, dass der ursprüngliche Fluchtgrund, die Schreckensherrschaft des Assad-Regimes, weggefallen ist.“ Klar, der eine Grund ist weggefallen, ein anderer hinzugekommen. Und zuletzt will man natürlich auch den langjährigen Freund und Partner Erdoğan nicht verärgern, der mit Syrien ganz eigene Pläne hat: in erster Linie die widerspenstigen Kurden wieder unter zentralistische Herrschaft zu bekommen und ihr klitzekleines bisschen Autonomie zu zerschlagen. Dass die Kurden noch vor einer Weile gegen die Islamisten gekämpft haben, die man jetzt hofiert, ist eine der vielen Pointen unserer aberwitzigen Gegenwart.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

In Syrien, das ist eine andere Pointe, finden – so hat es Al-Golani zumindest angekündigt – bald Wahlen statt. Wobei die Wahlen auch schon wieder ein kleiner fieser Witz sind. Denn was Al-Golani unter Wahlen versteht, sieht so aus: In dem neuen syrischen Parlament soll es 210 Abgeordnete geben, von denen 70 direkt vom selbsternannten Präsidenten Al-Golani bestimmt werden und 140 von regionalen Wahlgremien, die wiederum von Unterausschüssen in den Wahlkreisen, die Unterausschüsse in den Wahlkreisen wiederum vom „Obersten Komitee“ in Damaskus. Auch hier gibt es eine kleine Pointe: Das „Oberste Komitee“ wird von Al-Golani benannt. Der kurdische Nordosten und der drusische Süden sind natürlich von vornherein von den Wahlen ausgeschlossen.

Man könnte sich das ganze Theater natürlich sparen und einfach gleich den Sieg von Al-Golani verkünden, ihn zum Pascha des Vilayet Syrien, zum Kalifen oder Diktator ernennen, es wäre ehrlicher. Aber darum geht es ja genau, ums Nicht-ehrlich-Sein. Das ist es, was erwartet wird, wenn man sich schon nicht an die Regeln hält, dann so zu tun als ob. Damit alle anderen so tun können als ob. Und man niemandem erklären muss, warum ein ehemaliger – aber nicht geläuterter – Al-Qaida-Mann als Staatspräsident den Eiffelturm in Paris besucht, vor den UN in New York spricht, während seine Männer zu Hause Minderheiten drangsalieren. Es klingt wie ein schlechter Witz, und das ist es auch.

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