Kanzlerwahlen in Deutschland: Knapp war es schon öfter

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Es hätte schon bei der allerersten Kanzlerwahl 1949 gewaltig schiefgehen können. Und das nicht nur wegen der einen Stimme Mehrheit, mit der Konrad Adenauer zum ersten Bundeskanzler der neu gegründeten Bundesrepublik gewählt wurde. In seinen Erinnerungen schrieb der CDU-Politiker: „Ich wurde im ersten Wahlgang von der absoluten Mehrheit aller Mitglieder des Bundestages, und zwar mit einer Stimme Mehrheit gewählt. Später fragte man mich, ob ich mich selbst gewählt hätte. Ich antwortete: ‚Selbstverständlich, etwas anderes wäre mir doch als Heuchelei vorgekommen.‘“ Bei Friedrich Merz reichte es an diesem historischen Dienstag nicht, obwohl er sich vermutlich auch selbst gewählt hat.

Alle Kanzler und die einzige Kanzlerin, Angela Merkel, wurden bisher stets im ersten Wahlgang gewählt. Knapp war es dabei öfter. Am knappsten eben 1949, denn Adenauer hätte seine eigene Stimme wohl gar nicht gereicht für die Mehrheit. Ein Mann aus Bayern könnte ihm zum Sieg verholfen haben – und auf jeden Fall das großzügige Hinwegsehen des Plenums über einen Formfehler von drei weiteren Abgeordneten.

Konrad Adenauer hatte gleich doppelt Glück

Adenauer war gegen eine große Koalition mit der SPD gewesen, wegen völlig unterschiedlicher Ansichten, wie Westdeutschland wieder aufzubauen und zu regieren sei. Darum war er für eine Zusammenarbeit von CDU, CSU, FDP und Deutscher Partei (DP). Deren Mehrheit (209 Abgeordnete) war nicht sehr komfortabel, und in der Union gab es Vorbehalte gegen die FDP. Am 15. September 1949 wackelt die Mehrheit schon am Morgen, es fehlen drei Abgeordnete. Als einziger Kandidat tritt Konrad Adenauer an, ehemals Oberbürgermeister von Köln, nach Kriegsende 1946 Vorsitzender der CDU in der britischen Zone und dann Präsident des Parlamentarischen Rates. Auf einen leeren Zettel sollen die Abgeordneten „Ja“, „Nein“ oder bei Enthaltung nichts schreiben.

Doch bei der Auszählung findet das Bundestagspräsidium drei Zettel mit dem Namen Adenauer vor. Manche haben wohl nicht genau zugehört. „Bundestagspräsident Köhler lässt vor Verkündung des Ergebnisses diese Frage klären. Das Plenum einigt sich unter zustimmendem Gemurmel darauf, diese „Adenauer-Stimmen“ dem Kandidaten zuzusprechen“, heißt es auf der Seite der Konrad-Adenauer-Stiftung. Diese Stimmen waren bitter nötig – denn am Ende hieß das Ergebnis: 202 Ja- und 142 Nein-Stimmen, 44 Enthaltungen, eine ungültige Stimme. Bei 402 Abgeordneten gerade so die absolute Mehrheit.

Aber auch seine eigene Stimme hat den damals 73-Jährigen vielleicht nicht gerettet. Einige kleine Parteien hatten sich nämlich darauf eingestellt, nach einem gescheiterten ersten Wahlgang der neuen Regierung Zugeständnisse abzuringen. Ein Abgeordneter der Bayernpartei aber, Johann Wartner aus dem Landkreis Straubing, hielt sich wohl nicht daran. Wartner behauptete Jahre später, „wohl als einziger Oppositionspolitiker“ an diesem Tag für Adenauer gestimmt zu haben, entgegen der Weisung seines Vorsitzenden. Ob das korrekt ist, lässt sich natürlich nicht letztgültig sagen, weil die Stimmabgabe ja geheim war und ist.

Häufig waren die Mehrheiten so großzügig bemessen, dass Abweichler verkraftbar waren

Bei den bisherigen 25 Bundeskanzlerwahlen hat nur einmal ein Politiker mehr Stimmen erhalten, als seine Koalition Sitze hatte. Das war 1998 Gerhard Schröder (SPD). Er erhielt sechs Stimmen mehr als seine rot-grüne Koalition aufwies – vielleicht von FDP-Abgeordneten, die der langen Kohl-Jahre überdrüssig waren? Alle anderen Kanzler konnten nie alle Koalitionsabgeordneten von sich überzeugen. Das war meist auch nicht nötig, weil die Mehrheiten großzügig bemessen waren. Bei Kurt-Georg Kiesinger (CDU) übrigens so großzügig, dass gleich Dutzende Abgeordnete von Union und SPD ihre Vorbehalte gegen ihn dokumentierten. Kiesinger wurde 1966 mit 340 Stimmen gegen 109 Stimmen bei 23 Enthaltungen zum dritten Bundeskanzler gewählt. Die einzige Oppositionspartei im Bonner Bundestag war die FDP, die aber lediglich 49 Abgeordnete stellte.

Dreimal ging es dann später noch relativ knapp zu. Das erste Mal bei Willy Brandt (SPD). 1969 stellte zwar die Union weiterhin die größte Fraktion, doch SPD und FDP einigten sich darauf, künftig gemeinsam zu regieren. Die Mehrheit war knapp, und bei der Wahl wurde es noch knapper, denn von den 254 sozial-liberalen Abgeordneten verweigerten drei Brandt ihre Stimme, der schließlich bei 251 Stimmen landete – und damit gerade zwei mehr als nötig für seine Politik des Wandels erhielt. Helmut Schmidt (SPD) musste 1976 sogar mit noch einer Stimme weniger (250 von 249 nötigen) vorliebnehmen. Auch hier hatten drei SPD- oder FDP-Politiker nicht für den Hamburger Genossen gestimmt.

Bei Helmut Kohl und Angela Merkel (beide CDU) waren die Mehrheiten meist groß oder sehr groß – mit der einzigen Ausnahme, dass Kohl 1994, als sein Stern als „Einheitskanzler“ bereits im Sinkflug war, nur auf 338 bei 337 nötigen Stimmen kam. Merkel musste sich etwa 2005 mit 51 Abweichlern zufriedengeben, Olaf Scholz (SPD) 2021 mit 20. Über die Stabilität einer Regierung sagt also das Ergebnis der Kanzlerwahl nur bedingt etwas aus. Hauptsache im ersten Wahlgang gewonnen. Das war zumindest in den ersten 76 Jahren der Bundesrepublik das Motto.

Was übrigens hatte 1949 Johann Wartner zu seiner Stimmabgabe für Adenauer getrieben? Er habe, so behauptete er später, das ewige Taktieren seiner Partei sattgehabt. Und er habe dringend gewollt, dass die Bonner Regierung endlich mit der Arbeit anfangen sollte. Er sah zahllose Probleme und Krisen im besiegten und vom Nationalsozialismus befreiten Deutschland – eine Verzögerung wollte er „nicht verantworten“. Weise Worte aus Niederbayern.

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