Der Energieschock sitzt noch tief. Nach dem russischen Überfall auf die gesamte Ukraine im Februar 2022 erfuhren Europas Staaten, Bürger und Firmen schlagartig und schmerzhaft, dass sie sich zu lange auf Gaslieferungen aus Russland verlassen hatten. In der Ukraine rollten die Panzer und flogen die Raketen, in Deutschland hatten sich Gazproms Gasspeicher geleert, auf den Energiemärkten schnellten die Preise für Erdgas nach oben. Das Wort „Gasmangellage“ machte Karriere. Die Angst vor einem kalten Winter war groß, von der Chemieindustrie bis hinein in Privathaushalte. Nur mit Nothilfen wie dem 200 Milliarden Euro schweren deutschen „Doppel-Wumms“ vermieden Europas Regierungen eine Eskalation der Energiekrise.
Kurz nach dem russischen Angriff brachte die EU nicht nur weitreichende Sanktionen gegen Russland auf den Weg – sie formulierte auch die Absicht, bis 2027 vollständig ohne Energieimporte aus dem Land auszukommen. Das war die politische Schlussfolgerung aus dem Preisschock und den früheren Jahren, in denen Russland Gaslieferungen „als politisches Druckmittel“ eingesetzt habe, etwa im Jahr der Krim-Invasion 2014, wie die Europäische Kommission schreibt. Am Dienstag hat sie zu ihrem Vorhaben erstmals eine konkrete Strategie vorgelegt, die vor allem die vollständige Abkehr von russischem Gas sicherstellen soll.
Die letzte Chance, das Ziel noch zu erreichen?
Der „Fahrplan“ zur Abkehr von russischen Energieimporten ist ein nüchtern formulierter Versuch, geopolitische Prinzipien – Unabhängigkeit, Energiesicherheit und Solidarität – in Infrastruktur, Vertragsrecht und Marktregeln zu übersetzen. Und es ist wahrscheinlich die letzte Chance, das Ziel noch zu erreichen.
Die Idee, es mithilfe von Sanktionen zu schaffen, hatte man schnell verworfen, weil diese immer Einstimmigkeit erfordern. Dem stünden Mitgliedstaaten wie Ungarn und die Slowakei im Weg, die noch stark von Pipeline-Gas aus Russland abhängig sind, sowie auch Belgien, Frankreich oder Spanien, in deren Häfen wiederum sehr viel Flüssigerdgas (LNG) aus Russland anlandet. Jetzt, heißt es, habe man einen Weg gefunden, ein Importverbot mit Mehrheitsentscheidungen durchsetzen zu können. Wie dieser Weg aussehen soll, das verrät allerdings weder der Plan noch antwortete die Kommission auf Fragen nach der genauen Rechtsgrundlage. Man werde beweisen, dass dies auch ohne einstimmige Beschlüsse möglich sei, hieß es lediglich.
EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte diesen Plan als eine ihrer obersten Prioritäten für die zweite Amtszeit angekündigt, als Teil ihres Programms für die ersten 100 Tage. Nun kam zuerst der Handelskonflikt mit den USA dazwischen, und die rechtlichen Feinheiten waren wohl komplizierter als gedacht. Zur Vorlage des Plans am Dienstagnachmittag in Straßburg bemängelte EU-Energiekommissar Dan Jørgensen, trotz aller Bemühungen habe die EU 2024 immer noch 19 Prozent ihres Gases aus Russland importiert, im Vergleich zu 45 Prozent vor 2022. Und sie werde diesen Anteil auch im laufenden Jahr nur auf 13 Prozent drücken können. „Das gefährdet unsere Energiesicherheit und macht uns anfällig für wirtschaftliche Erpressung und Manipulation“, sagte der Däne.
Keine neuen Verträge mit Lieferanten aus Russland
Um bis Ende 2027 sämtliche russischen Gasimporte loszuwerden, neben denen dann auch Öl und Kernbrennstoffe tabu sein sollen, definiert die Kommission nun zwei Zielmarken. Zunächst sollen bis Ende dieses Jahres keine neuen Verträge mehr mit Lieferanten aus Russland geschlossen sowie kurzfristige Markttransaktionen am sogenannten Spotmarkt untersagt werden. Die Kommission werde dazu im Juni ein Gesetz vorlegen, um „alle Importe im Rahmen neuer russischer Gasverträge und bestehender Spotverträge zu verbieten“, heißt es in dem Dokument. Auf Spotmarkt-Transaktionen entfällt derzeit noch etwa ein Drittel der Gasimporte aus Russland.
Schwieriger ist der Umgang mit langlaufenden Lieferverträgen, die am Gasmarkt üblich sind und die anderen zwei Drittel der Russland-Importe ausmachen. Typischerweise funktionieren diese teils bis deutlich in die 2030er-Jahre reichenden Verträge nach dem Prinzip „take or pay“: Bei Nichtabnahme müssen Unternehmen also trotzdem zahlen. Ebenfalls im Juni will die Kommission ein weiteres Gesetz vorstellen, das auch diesen langfristig vereinbarten Lieferungen ein Ende setzt. Ein solches Verbot solle spätestens Ende 2027 in Kraft treten, schreibt die Behörde. „Der notwendige Ausstieg aus diesen Importen braucht wegen der größeren Mengen für die betroffenen Importeure mehr Zeit“, heißt es weiter.
Ohne nationale Ausstiegspläne der Mitgliedstaaten geht es nicht
Das werde nicht ohne nationale Ausstiegspläne der Mitgliedstaaten funktionieren. Zu diesen will die Kommission die EU-Länder verpflichten. Die nationalen Pläne sollen unter anderem etliche Details aus den vertraulichen Langfrist-Verträgen enthalten – die Kommission will genauer wissen, wohin wie viel Gas fließt. Zusätzlich sollen die Länder ihre jeweils eigenen Wegmarken hin zum Komplettausstieg formulieren. Auch das will die Brüsseler Behörde gesetzlich regeln, mit Vorgaben „für mehr Transparenz, Überwachung und Rückverfolgbarkeit von russischem Gas“.
Mit der Suche nach Alternativen zu Erdgas aus Sibirien ist die EU in den vergangenen Jahren weit gekommen. Als Teil des Plans empfiehlt die Kommission nun eine weitere Senkung des Gasbedarfs. Mit einem weiter steigenden LNG-Angebot aus den USA, Kanada, Katar und einigen nordafrikanischen Ländern werde außerdem genug per Schiff transportiertes Gas verfügbar sein, schreibt die Behörde. Mit dem Bau zahlreicher neuer LNG-Terminals sei die EU gut vorbereitet, das auch importieren zu können.
Bleiben noch Erdöl und nukleare Brennstoffe. Bei Ersterem hat die Staatengemeinschaft ihren Importanteil aus Russland bereits auf drei Prozent gesenkt – um den Rest loszuwerden, will die Kommission ebenfalls nationale Pläne verlangen. Im Fall von angereichertem Uran plant sie für Juni neue Handelsbarrieren. Ein vierter Gesetzesvorschlag soll den EU-Ländern außerdem konkrete Ziele vorschreiben, um russisches Uran zu ersetzen. Für alle drei Rohstoffe betont die Kommission vorab, sie wolle „die Auswirkungen auf die Energiepreise so gering wie möglich halten, die Energiemärkte durch sichere und vorhersehbare alternative Lieferungen stabilisieren und für Rechtssicherheit sorgen“. Das umschreibt treffend den Balanceakt, den sich die EU jetzt vornimmt – um sich den nächsten Schock nicht selbst einzuhandeln.