Im Paragraphen 86 des Strafgesetzbuches wird das Verbreiten von „Propagandamitteln“ verfassungswidriger und terroristischer Organisationen mit Strafe belegt. Das erfasst unter anderem Symbole und Losungen des Nationalsozialismus. Deren Nutzung, aber auch Bagatellisierung soll sanktioniert werden.
Zuletzt war diese Norm einschlägig, als Björn Höcke (AfD) 2024 vom Landgericht Halle zu einer Geldstrafe verurteilt wurde, weil er die SA-Phrase „Alles für Deutschland“ in mehreren Reden verwendet hatte. Am vergangenen Donnerstag sah sich nun der Berliner Philosoph Norbert Bolz einer Hausdurchsuchung mit ähnlichem Hintergrund ausgesetzt.
„Gute Übersetzung von ,woke'“
Vor mehr als anderthalb Jahren hatte er einen Tweet abgesetzt, in dem er eine Überschrift der Tageszeitung „taz“ („AfD-Verbot und Höcke-Petition: Deutschland erwacht“) aufgriff und schrieb: „Gute Übersetzung von ‚woke‘: Deutschland erwache!“
Nach einem Hinweis der Plattform „Hessen gegen Hetze“, die vom hessischen Innenministerium eingerichtet worden ist, hatte die beim Bundeskriminalamt angesiedelte „Zentrale Meldestelle für strafbare Inhalte im Internet“ den Vorgang an die Berliner Generalstaatsanwaltschaft weitergeleitet. Und die schickte vier Polizisten zu Bolz, die wieder abzogen, nachdem er nachweisen konnte, den Tweet tatsächlich geschrieben zu haben.
Man reibt sich die Augen. Die „taz“ verwendet ironisch den Indikativ der NS-Parole. Bolz macht darüber seinerseits einen Scherz, der „woke“ für „aufgewacht“ in einen Imperativ zurückübersetzt. Das kann man witzig finden oder nicht. Staatsanwälte und Richter, die hier den Anfangsverdacht einer Straftat erkennen, sollten ins Repetitorium zurückgeschickt werden. Die Lektüre des Paragraphen 86 StGB haben sie offenbar nach Absatz 1 abgebrochen. In Absatz 4 hätten sie gefunden, dass es zulässig ist, Sätze wie den inkriminierten zu verwenden, wenn ihre Verwendung der staatsbürgerlichen Aufklärung, der Kunst oder Wissenschaft „oder ähnlichen Zwecken“ dient.
Verdacht der Einschüchterung
Wozu immer es diente, als Bolz sich über die Woke-Bewegung lustig machte, es waren gewiss ähnliche Zwecke. Keinem Zweifel unterliegt überdies, dass sie der gesprächige Philosoph offen dargelegt und seine Verfasserschaft gewiss nicht geleugnet hätte. Ihm die Polizei zur Sicherung von Beweismitteln zu schicken, macht den Rechtsstaat lächerlich. Ständig wird geklagt, die Gerichte seien überlastet und die Polizisten schöben gewaltige Mengen von Überstunden vor sich her. Für eine solche Posse aber ist Zeit.
Entsprechend kommt die Vermutung auf, der Zweck der Aktion sei Einschüchterung gewesen. Vielleicht verselbständigt sich auch die amtsschimmelige Neigung, überall ein Delikt zu sehen, wenn einem etwas nicht passt. Den Durchsuchungsbeschluss unterschrieben hat Richter Dr. Lars Fricke vom Amtsgericht Berlin-Tiergarten. Der Spezialist für „Rechtsfragen der Rücknahme von Batterien“ (so der Untertitel seiner Dissertation) drängt sich damit als Komödienfigur auf. Wir empfehlen ihm die Lektüre nicht nur des Absatzes 4, sondern von E. T. A. Hoffmanns „Meister Floh“, in dem der gesinnungsschnüffelnde Hofrat Knarrpanti den denkwürdigen Satz ausspricht, „wenn erst der Verbrecher ermittelt sei, werde sich das begangene Verbrechen von selbst finden“.

vor 3 Stunden
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