Ende 2023 waren lauf offiziellen Statistiken fast 5,7 Millionen Menschen in Deutschland pflegebedürftig. 80 Prozent dieser Menschen wurden zu Hause versorgt, größtenteils durch Angehörige.
Können Angehörige die Pflege ihrer Angehörigen vorübergehend nicht mehr wahrnehmen – wegen Krankheit oder weil sie Erholung durch Urlaub benötigen – übernimmt die Pflegeversicherung die notwendigen Kosten einer Ersatzpflege für maximal sechs Wochen pro Jahr. Für die sogenannte Verhinderungspflege bezahlt die Versicherung bis zu 2500 Euro im Jahr.
Doch diese Hilfe wird immer häufiger missbraucht. Nach Recherchen der Süddeutschen Zeitung (SZ), NDR und WDR zeigt eine Auswertung der Fehlverhaltensberichte mehrerer großer Krankenkassen, dass die Verhinderungspflege häufig beantragt wird, ohne dass sie tatsächlich stattfindet. Die Versicherungen hätten die Gelder ausgeschüttet und die Betrügerinnen und Betrüger diese in die eigene Tasche gesteckt, ohne dafür berechtigt gewesen zu sein.
Die Erhöhung erhöht natürlich auch den Anreiz für die Tätergruppen, noch mehr betrügerische Anträge zu stellen.
Frank Warnhoff, LKA Berlin
Gemäß der Recherche hat die Staatsanwaltschaft in einem konkreten Fall in Bayreuth Anklage erhoben. Dort soll eine Pflegeberaterin für etwa 100 Menschen Verhinderungspflege kassiert haben, die nie stattfand. Die Seniorinnen und Senioren erhielten eine Rückvergütung von 100 bis 200 Euro, „der Rest der Zahlung behält die Tätergruppe“, sagte Frank Warnhoff vom Landeskriminalamt in Berlin der „SZ“.
Der Spitzenverband der Gesetzlichen Krankenkassen erkenne Strukturen der Organisierten Kriminalität „in Form von groß angelegtem Sozialleistungsmissbrauch.“ Der Berliner Oberstaatsanwalt Thomas Gritscher sagte der „SZ“, die Verhinderungspflege schaffe „ideale Bedingungen für Betrüger.“
Die Verhinderungspflege werde rege genutzt, wie Statistiken zeigten. 2022 gaben die Pflegekassen gemäß dem Bericht 2,1 Milliarden Euro für diese spezielle Sozialleistung aus, 2023 waren es bereits 2,6 Milliarden, 2024 gar 3,1 Milliarden Euro. Die Behörden seien sich den Risiken für Betrügereien in der Verhinderungspflege offenbar bewusst.
Ein Bericht des Bundeskriminalamtes weise auf die „Schwächen und Mängel bei der Durchführung von Verhinderungspflege“ ausdrücklich hin. Die Anträge auf die Sozialleistung seien simpel, Kontrollen fänden kaum statt, bei der Leistung habe man „hohe Tatgelegenheitsstrukturen geschaffen.“
Mit Sorge sehe man in Ermittlerkreisen, dass die Verhinderungspflege nach einer Entscheidung der Ampel-Regierung zum 1. Juli dieses Jahres von 2500 Euro auf 3500 Euro angehoben werden soll. „Die Erhöhung erhöht natürlich auch den Anreiz für die Tätergruppen, noch mehr betrügerische Anträge zu stellen“, sagt Frank Warnhoff vom LKA in Berlin der „Süddeutschen Zeitung“.
Das Bundesgesundheitsministerium rechtfertigt gegenüber der „SZ“ die Erhöhung und sagt, man wolle den Missbrauch dadurch bekämpfen, dass die Pflegebedürftigen künftig eine Übersicht erhalten, welche Geldzahlungen an sie erfolgt sind.
Oberstaatsanwalt Gritscher bezweifelte im Gespräch mit „SZ“, NDR und WDR den Erfolg: „Keine Lösung stellt die Übersicht jedenfalls für diejenigen Fälle dar, in denen der Pflegebedürftige an der Tat beteiligt ist“. Und er ergänzte: „Das dürften wohl die meisten sein.“