Ian Gillan 80: Ein süßes Kind der Trümmerzeit

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In seiner Autobiographie zitiert Ian Gillan einen Fragebogen, den er für Fans einer BBC-Sendung in den späten Sechzigerjahren ausfüllte. Bei der Frage nach dem ersten Profi-Auftritt gab er einen „College Dance in Twickenham“ an, bei jener nach dem größten Durchbruch in der Karriere: „bislang keiner“.

Gillan sang damals in einer Gruppe namens Episode Six, die heute weitgehend vergessen ist. Aber immerhin: Ein Auftritt mit ihr in einer Kneipe bescherte ihm sowie dem Bassisten Roger Glover das, was wohl als beider größter Durchbruch gelten kann – nämlich die Aufnahme in die progressive Rockband Deep Purple und die Formation der sogenannten Mark-II-Besetzung dieser Gruppe, die sie zu einer der prägendsten Rockbands überhaupt gemacht hat. Neben dem Gitarristen Ritchie Blackmore, dem Organisten Jon Lord und dem Schlagzeuger Ian Paice nahmen sie in dieser Besetzung die für die Stilrichtungen des Hardrock und des Heavy Metal wegweisenden Alben „Deep Purple in Rock“ (1970), „Fireball“ (1971) und „Machine Head“ (1972) auf. Zudem stellt das 1972 veröffentlichte „Made in Japan“ in den Augen vieler eine Art Goldstandard für Live-Alben der Rockmusik dar.

Hervorbringer epochalen Schreigesangs

Der Entwicklungssprung der Band von ihrer psychedelischen in die Hardrock-Phase ist an sich schon erstaunlich; noch überraschender aber scheint als Teil davon die Entwicklung des bislang eher chorknabenhaft wirkenden Gillan zu einem der führenden Rockvokalisten (mit dem notorischen „Smoke on the Water“, dem waghalsigen „Speed King“ oder der Ballade „When a Blind Man Cries“) und vor allem: zum Hervorbringer des epochalen Schreigesangs von „Child in Time“.

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1945 im Londoner Stadtteil Hounslow geboren, war Gillan, wie er selbst im Interview mit dieser Zeitung schilderte, ein Kind der Trümmerzeit, dessen Familie erstaunlicherweise Deutschen gegenüber keine Rachegefühle empfand, sondern ihm sogar riet, dort Freunde zu finden. So machte er erste sehr positive Erfahrungen als Musiker in Hamburg, München und Frankfurt. Trotz Armut in dieser musikalischen Frühzeit – er habe sich eine Zeit lang von Hundekeksen ernährt, erzählt Gillan – liest sich seine Lebensgeschichte bis dahin eher brav.

Seine Liedtexte waren es auch, und für sich genommen, wirken sie nicht wie große Lyrik, aber in ihrer theatralischen Vertonung ereignete sich dann eine Art Explosion. Auf dem Papier liest „Highway Star“ sich sehr schablonenhaft – wer es hört, dem wird mit ziemlicher Sicherheit der Gaul durchgehen. Wie das vage vom Kalten Krieg handelnde Lied „Child in Time“ sich erst hochschraubt und dann im Schlussteil noch einen Oktavsprung wagt hin zu seiner charakteristischen, in Gillans Falsett zugleich geschrienen und doch gesungenen Trauermelodie, hat einer Generation von Hörern, ähnlich wie Jim Morrisons ekstatischer Ausbruch bei „When the Music’s Over“ von den Doors oder Robert Plant als wohl bedeutendster Hardrock-Sänger bei Led Zeppelin, Respekt und vielleicht auch Furcht eingeflößt.

Niemandem kann diese Kunstfertigkeit entgehen

Während Deep Purple auf den ersten Blick nur Affekte gegen Rockmusik wecken mochten – diese sei (womöglich satanisches) Geschrei oder, verstärkt durch einen Eintrag der Band für einen Lautstärkerekord ins Guinnessbuch, bloßer Krach –, kann bei näherem Hinhören insbesondere ihrer Mark-II-Phase niemandem ihre Kunstfertigkeit entgehen. Mögen viele sie vor allem in Blackmores und Lords Soli erkennen, trägt auch Gillans Gesang seinen Teil dazu bei. Wie einzigartig etwa der von „Child in Time“ ist, erweist sich etwa, wenn man Instruktoren auf Youtube ihn vermeintlich meistern und dabei kläglich scheitern sieht.

Gillan hat als Solokünstler, im Duo mit Glover, zeitweilig bei der Gruppe Black Sabbath und in einer neuen Besetzung von Deep Purple ein großes Werk geschaffen. Dieses hat allerdings, nicht ungewöhnlich in der Rockmusik, Anfang der Siebziger schon seinen Höhepunkt erreicht. Am 19. August wird Ian Gillan achtzig Jahre alt.

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