Helen Mirren zum 70.: Gesten und Ansprachen für allerhöchste Ansprüche

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Herausragende Künstler erwarten auch von ihrem Umfeld, dass es Herausragendes leistet – oder ihnen zumindest bei ihren Bemühungen um Exzellenz nicht im Weg steht. Helen Mirren könnte ein Lied davon singen. Tut sie manchmal auch, gut gelaunt, in Interviews – so stellte sie einmal die Vermutung an, ihr Drang, sich immer wieder in Drehbücher einzumischen, mit Regisseuren zu diskutieren und in diesen Kollaborationen gemeinsam bessere Frauenrollen zu erarbeiten, hänge wohl mit ihren Anfängen beim Theater zusammen, da habe sie das Ansprüche-Stellen gelernt: „Shakespeare, Tschechow, Gorki, das sind ja die großartigsten Schreiber, deren Stoffe sind, natürlich, viel komplexer und feiner als das meiste, womit man beim Film arbeiten kann.“ Sich für die Kinokarriere im Niveau nach unten zu bewegen, sah die Schauspielerin überhaupt nicht ein.

Im britischen Gangsterdrama „The Long Good Friday“ (1980) schmiss sie also Sexszenen aus dem Skript und weigerte sich etwa, ihrem von Bob Hoskins gespielten Gatten wie ein Hausmädchen die Kleider herauszulegen. Hoskins unterstützte die Schauspielkollegin. Am Ende bringt sie ihm Manschettenknöpfe – und drückt mit dieser kleinen Geste aus, dass der Mann sich ohne sie nicht zurechtfinden würde.

Stolz, Verspieltheit und neckisches Flirten

Im Finden und Deuten solcher Details ist sie Meisterin. Jede ihrer Rollen garniert sie mit Gesten, die sich weder Drehbuch noch Regie ausdenken können, die aber aus der Figur eine Person mit Geschichte machen. Im Drama „Cal“ (1984) spielt sie eine Polizistenwitwe, die sich in den Wirren des Nordirlandkonflikts in einen jüngeren IRA-Kämpfer verliebt. Eigentlich steht der junge Mann im Mittelpunkt, über weite Strecken folgt der Film ihm beim grübelnden Rauchen, bei langen Spaziergängen durch regengraue Landschaft und dem heimlichen Anschmachten der schönen Bibliothekarin, die Mirren hier gibt. Sie ist nur in rund einem Drittel der Szenen zu sehen, aber dann gehört der Film immer ihr. Irgendwann zieht der Mann als Wanderarbeiter in einem Gartenhäuschen auf ihrem Grundstück ein, sie bringt ihm warme Kleidung, er bedankt sich mit verschämtem Blick, und sie poliert sich am Wollpullover die Fingernägel. Eine Handbewegung, die zugleich Stolz, Verspieltheit und neckisches Flirten andeutet. Die Filmfestspiele in Cannes zeichneten sie dafür als beste Schauspielerin aus.

Dass sie vor Publikum auftreten will, wusste sie bereits mit sechs Jahren. 1945 im Londoner Stadtteil Hammersmith als Ilyena Lydia Vasilievna Mironova geboren, musste sie diesen Wunsch zunächst gegen die Eltern verteidigen. Die Mutter war Tochter eines Fleischermeisters, der Vater Sohn eines russischen Adligen, dessen Familie nach der Oktoberrevolution im Londoner Exil gelandet war und der sich dort als Taxifahrer durchschlagen musste. Die Eltern bestanden also auf einer soliden Ausbildung. Mirren lernte den Lehrerberuf und nebenbei die Stücke Shakespeares auswendig. Nach dem Abschluss ging sie direkt ans Theater, 1967 nahm die Royal Shakespeare Company sie auf. Die Stücke des Dichters spielte sie nicht nur auf der Bühne immer wieder, auch fürs Kino arbeitete sie an zahlreichen Adaptionen mit, zuletzt besetzte Regisseurin Julie Taymor sie in der eigentlich männlichen Rolle des Prospero in „The Tempest“ (2010).

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Auf solche Experimente hatte Mirren Lust, nachdem sie den größten Erfolg ihrer Karriere mit der Darstellung von Queen Elizabeth II. in Stephen Frears’ „The Queen“ (2006) gefeiert hatte. Die schwierige Rolle einer Frau zu spielen, die Familie und Amt durch die Krise nach Prinzessin Dianas Tod zu manövrieren versucht, brachte Mirren den Coppa Volpi in Venedig, den Golden Globe und den Oscar als beste Schauspielerin ein. Mit sechzig hätte sie sich darauf ausruhen können. Aber Mirren hielt noch nie viel von Konventionen. Freimütig nahm sie danach also an, was sie reizte: In der Actionfilmreihe „Fast&Furious“ staucht sie den virilen Helden Jason Statham zusammen, er solle nicht so rumheulen, als sie ihn mit einer Adrenalinspritze aus dem Koma holt.

Im Agententhriller „RED“ (2010) ballert sie im weißen Abendkleid mit einem Maschinengewehr Autos kaputt. Und im Drama „Eye in the Sky“ (2015) marschiert sie als Colonel durch Kommandoräume, als hätte sie nie etwas anderes gemacht. Nur beim Warten auf einen Drohneneinsatzbefehl greift ihre Hand zur Gebetskette, deren Perlen sie durch die Finger gleiten lässt – unbewusst, nicht nervös, um den Händen etwas zu tun zu geben, während ihr Kopf Höchstleistungen vollbringt. Ein kleines Detail, das ein ganzes Leben andeutet. An diesem Samstag wird Helen Mirren siebzig Jahre alt.

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