Die amerikanische Autorin Katie Kitamura bringt ihre Figuren gern in Situationen, in denen etwas aus den Fugen gerät. Da ist die Erzählerin des Romans „Trennung“, die nach Griechenland reist, um dort ihren Mann zu suchen, von dem sie heimlich getrennt lebt. Als er tot aufgefunden wird, spielt sie die trauernde Witwe. In „Intimitäten“ verdolmetscht eine Frau am Den Haager Strafgerichtshof die Aussagen von Kriegsverbrechern. Ein Angeklagter findet Gefallen an ihr, betrachtet die Dolmetscherin, die vor Gericht seine Worte spricht, als Verbündete. Sie selbst spürt eine beunruhigende Verbindung, „als wäre ich in einen Körper verpflanzt worden, in dem ich nicht sein wollte“.
In ihrem neuen Roman „Die Probe“ dreht Kitamura diese Idee der ausfransenden Enden weiter. Erneut geht es um die Risse, die sich durch solide Leben und Beziehungen ziehen. Um die Machtkämpfe, die darin ausgefochten werden, und die Rollen, die wir spielen – je nachdem, mit wem wir es gerade zu tun haben. Es ist aber auch ein Roman, der das Prinzip von Stabilität an sich abschaffen will. Wirklichkeit ist darin Ansichtssache, eine Frage der Interpretation. In diesem Sinne kann alles so sein, wie man denkt. Oder genau andersherum.
Ein unbekannter Sohn
Im Mittelpunkt steht eine New Yorker Theaterschauspielerin: erfolgreich, etabliert. In einem teuren, aber gesichtslosen Restaurant in Manhattan trifft sie einen viel jüngeren Mann. Gedanklich geht sie durch, welchen Eindruck das Rendezvous auf die anderen Gäste macht. Sehen die zwei aus wie Mutter und Sohn? Oder hält man ihn für ihren Geliebten, gar für eine bezahlte Begleitung? Diese Art von Spekulation ist typisch für Kitamura, deren kühle Protagonistinnen im Kopf oft ausgefeilte Szenarien entwerfen.
Doch die Begegnung verläuft anders als erwartet. Der junge Mann, Xavier, hat eine überraschende Theorie: Er hält die Schauspielerin für seine Mutter. Tatsächlich gibt es zwischen ihnen eine gewisse Ähnlichkeit. Und hat sie nicht in einem Interview, sogar mit Bedauern, davon gesprochen, ein Baby weggegeben zu haben? Aber die Schauspielerin hat nie ein Kind geboren. Langsam schwant ihr, dass hinter der Unbedarftheit, mit der Xavier ein Kinderessen aus Hamburger und Pommes bestellt, hinter seinem Charme noch etwas anderes stecken könnte. Bevor sich das lösen lässt, taucht plötzlich ihr Mann im Restaurant auf.

Für eine Weile sieht es dann so aus, als habe man es mit der Geschichte einer gut situierten und etwas eingefahrenen Ehe zu tun. Die Schauspielerin und ihr Mann Tomas leben in einem schönen Apartment auf der Upper West Side. Sie befolgen allerlei Alltagsrituale. Doch die seltsame Begegnung mit Xavier hat etwas verschoben. „Du betrügst mich doch nicht wieder, oder?“, fragt er aus heiterem Himmel. Es ist eine von vielen Kehrtwenden des Romans, die abrupt die Perspektive verschieben.
Ein Blick unter die Oberfläche
Einiges ist über die Distanz geschrieben worden, die in Kitamuras Büchern zwischen den Figuren herrscht. Weil ihr Stil präzise und reduziert ist und ihre Protagonistinnen cool und namenlos, hat man die Autorin mit Rachel Cusk verglichen. Man könnte auch sagen, dass Kitamura, 1979 als Tochter japanischer Einwanderer in Kalifornien geboren, Thriller des Zwischenmenschlichen schreibt.
Ihr Interesse gilt den Tumulten, die sich unter der Oberfläche abspielen. Den Missverständnissen und Fehleinschätzungen. Menschliche Begegnungen sind bei ihr ein Powerplay: Es gibt einen Gewinner und einen Verlierer. Jemanden, der die Oberhand behält, und jemanden, der geschlagen vom Platz zieht. Nervenzerrend und amüsant zugleich ist etwa eine Szene in „Trennung“, in der die Erzählerin eine junge Hotelangestellte, mit der ihr Mann vielleicht eine Affäre hatte, zum Abendessen einlädt. Wie mit dem Skalpell nimmt Kitamura das Kräftemessen bei buttrigem Hummer auseinander.
Auch „Die Probe“ fragt, ob wir die Menschen, die uns nahestehen, je wirklich kennen können, ob unser Verhalten gegenüber anderen bloße Performance ist. Wie passend, dass die Erzählerin ihr Geld mit Schauspiel verdient. Das ist eine weitere Parallele zu Cusk: Natürlich geht es im Buch auch darum, was es braucht, um als Frau Kunst zu machen.
Vieles spielt sich deshalb auf der Theaterbühne ab. Die Schauspielerin hadert mit einer komplizierten Rolle. Die Proben für das Stück einer angesagten jungen Autorin sind fast beendet, doch sie bekommt die entscheidende Szene nicht hin. Das Chaos ist komplett, als Xavier wieder auftaucht: Er ist der neue Regieassistent. Ihr früheres Treffen scheint allein die Schauspielerin zu befremden. „Ich fragte mich unwillkürlich, ob ich sein bizarres Anliegen missverstanden, falsch aufgefasst oder sogar verkehrt in Erinnerung hatte.“
Was ist hier real?
Auf die Idee für das Buch habe sie eine Boulevardüberschrift gebracht, hat Katie Kitamura gesagt: „Ein Fremder sagte, er sei mein Sohn“. Den Artikel habe sie dann gar nicht mehr lesen müssen. „Mich hat die Vorstellung gefesselt, dass in einem einzigen Moment, alles, was man über sich selbst und seinen Platz in der Welt weiß, auf den Kopf gestellt werden kann.“ Passend dazu folgt, gerade als man auf die Auflösung der seltsamen Begebenheit hofft, ein harter Schnitt.

Es beginnt der zweite Teil des Buchs, der sich am ehesten als eine Art verrutschte Realität beschreiben lässt. Noch immer befindet man sich im Kosmos der Schauspielerin: die schicke Wohnung, Tomas, das Frühstück und das Theaterstück, mittlerweile ein rauschender Erfolg. Auch Xavier ist da – bloß ist er nun tatsächlich der Sohn der Schauspielerin. Bei einem erneuten Restaurantessen wird beschlossen, dass er wieder zu Hause einziehen kann, solange er seine Regieassistenz macht. „In diesem Moment fiel mir ein, wie es gewesen war, ihn als Kind zu umarmen, sein nach Tier riechender Nacken, ein überwältigendes Gefühl.“
Und von hier an legt Kitamura falsche Fährten. Zur Vorbereitung auf den Roman hat die Autorin Horrorfilme geschaut, David Lynch, „Rosemary’s Baby“ von Roman Polański. Auch wenn „Die Probe“ mit den Genre wenig gemein hat: Entscheidend war das Gefühl der Entfremdung. Eine Ahnung von Unwirklichkeit zieht sich durch, wenn die Schauspielerin in ihrer Wohnung den Eindruck hat, „Räume zu betreten, die lange Zeit unbewohnt gewesen waren und doch in allen Details meinem Zuhause glichen, bis hin zur Vase auf dem Tisch im Flur und den Mänteln an der Garderobe, nur dass es eben nicht mein Zuhause war.“
Immer mehr kippt die Handlung ins Surreale. Das eröffnet interessante Perspektiven zum Thema Subjektivität. Was, wenn wir unserer Wahrnehmung nicht trauen können? Wenn wir uns ständig selbst etwas vormachen? Man merkt, dass man die ganze Zeit ein völlig anderes Buch gelesen hat, als man dachte. Das Ende fällt etwas überdreht aus. Das kann einen erst einmal ratlos stimmen. Man kann es aber auch als Einladung verstehen: die Geschichte gleich noch einmal von vorne zu lesen.
Katie Kitamura, „Die Probe“. Aus dem Englischen von Henning Ahrens. Hanser Verlag, 176 Seiten, 23 Euro.