Bild der Woche: Ein unechtes Foto von einem echten Verlust

vor 15 Stunden 1

Vor uns ist ein KI-Bild eines echten Ereignisses. Erst habe ich zahllose Bilder und Videos aus Odessa gesehen. Eine russische Drohne schlägt in einen Stall ein: verletzte Pferde und Ponys mit tiefen Wunden auf den glatten Körpern. Menschen rennen umher, bemüht, die Pferde aus den Trümmern herauszuführen. Ein Pferd, ein Schimmel, liegt bewegungslos. Es ist tot. Die Besitzerin umarmt seinen Kopf, versteckt ihr Gesicht in seinem. Später weint sie vor der Kamera, alles ist zerstört, Kamilla sei ihr Lieblingspferd gewesen. Ich kann mich von diesem Horror nicht trennen und staune über mich selbst: Es sind bloß Pferde, heute wurden Menschen in ihren Wohnungen durch russische Drohnen getötet. Kiew liegt im Rauch. Die ganze Stadt hat nicht geschlafen. Warum bleibe ich an diesen Bildern hängen? Weil das Pferd das menschlichste Wesen ist, mehr als die Menschen? Wegen der Bilder aus dem Zweiten Weltkrieg? Ein Flashback von Pferdekadavern, die Straßen von Butscha entlang?

Die großen Rauchwolken steigen bis zum Himmel in meiner Heimatstadt – der Krieg nimmt eine neue Wendung. Mehrere Hochhäuser sind getroffen. Kiew zeigt eine brennende Silhouette, ein Profil mit pittoreskem Feuer und Rauch. Ich möchte weder diese Bilder wahrnehmen noch diese Realität. Ich schreibe meinen Freunden. Eine antwortet mit dem jetzt populären Spruch: „Wir haben überlebt, wir gehen arbeiten.“ Aber wenn nicht, dann eben nicht. Ich kann mir die seelische Anspannung der Ukrainer angesichts der Todes-Lotterie kaum vorstellen. Zehntausende verbringen ihre Nächte in Kiews U-Bahn-Stationen. Morgens gehen sie arbeiten.

Dieser Text stammt aus der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung.

Mehrere Tage nach dem Angriff auf Odessa sehe ich dieses Bild in meinem Telefon, und es überschattet alle anderen: die zerstörten Häuser, Rauchsäulen, die Menschen in der U-Bahn. Dieses Pferd, das vor mir liegt, ist das Sinnbild des Desasters, des aktuellen Zustands der Welt: ein toter Pegasus, ein totes geflügeltes Pferd. Wenn Pegasus tot ist, siegt der Pragmatismus des Krieges? Im Foto scheint alles vorhanden zu sein: die Fragilität und Schönheit des Lebenden, der Tod und die Trauer, die Verzweiflung der letzten Zeit – angeschlossen in einer beinahe magisch-mythischen Form. Diese majestätische Szene erschüttert mich: Warum habe ich das Bild nicht früher gesehen?

Surreal und erhaben

Was für ein unwirklicher Zufall! Das Pferd liegt zwischen den Wänden, von einem Betonblock erschlagen, der hinter seinem Rücken wie ein Flügel herausragt, als wäre das Pferd zum Pegasus erst durch den Tod aufgestiegen. Das Licht des Jenseits, wie in einem Tempel, die Komposition, die Frau, die das Pferd leicht berührt – alles sieht surreal und zugleich erhaben aus. Etwas Ikonisches strömt aus dem Bild, geht mir unter die Haut. Erst nach einiger Zeit, plötzlich, verstand ich, dass so ein Foto nicht sein kann, dass es ein KI-generiertes Bild ist. Noch niemals täuschte ich mich so lange. Hat dieses Bild bei mir Anklang gefunden, mich mit seiner Symbolkraft verblendet? Nun sah ich die deformierten Hände der Frau, eine ungewöhnliche Form des Eimers, die eklatante „Sterilität“ und war irritiert, dass ich es nicht früher erkannt hatte.

Die echten Bilder davon sind voll Blut, Dreck und Bewegung. Sie zeugen vom Verlust und Leid, direkt und konkret, ohne jeglichen Anspruch, etwas Symbolisches zu repräsentieren. Wer und warum hatte das Bedürfnis, das alles zu „destillieren“? Ich suchte Links zu diesem Foto auf, eine Frau kommentiert: „Verbreitung von gefälschten Fotos und Videos entwertet das reale Leid der ­Ukrainer.“ Jemand hat hier mit KI aus den echten Fotos ein abstrakt wirkendes Bild vom „Opfer des Kriegs“, eine Pietà, generiert, die viele Sinnebenen besitzt und viele Assoziationen hervorruft. Entwertet es wirklich ein echtes Geschehen? Vor uns ist zwar ein künstliches Erzeugnis, aber kein Fake, denn die Tatsache bleibt: In Odessa wurde durch eine Drohne das Pferd getötet, die Menschen trauern. Es ist ein unechtes Foto von einem echten Verlust. Vielleicht ist es bloß ein Kunstwerk? Ein Versuch, die Totalität des Geschehens in nur einer Szene darzustellen?

Die heutigen Kriege haben mehrere Formen von KI hervorgebracht: solche, die das Leid unsittlich überhöhen, und solche, die es durch massenhafte Vervielfältigung banalisieren. Hier wurde mithilfe der KI versucht, das Geschehen und unsere Gefühle, die es in uns ausgelöst hat, in einer bildlichen Andacht zu vereinen. Sind wir Zeugen der paradoxen Geburt einer neuen Form der primitiven Kunst, die man mit einem hochkomplexen Medium schafft?

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