Jörg Sander will sich das Streitobjekt jetzt mal genauer anschauen. Er hat sich eine Kopie des Zettels besorgt, der das Ende der DDR einläutete. Den Sprechzettel von SED-Politbüromitglied Günter Schabowski bei der etwas missverständlichen Pressekonferenz am Abend des 9. November 1989 in Ost-Berlin. Sander, Vizepräsident des Oberverwaltungsgerichts Münster, schaut auf die wirren, kaum leserlichen Notizen und meint dann: „Wenn man den Zettel sieht, ist es kein Wunder, dass die Mauer außerplanmäßig gefallen ist.“
Nun ja, schon der Anfang: „Wer kommt mit / Horst? Für Bö / [19:00].“ Weltgeschichte kann manchmal mit einer kleinen bürokratischen Überforderung beginnen. Ganz am Ende steht auf dem Schabowski-Zettel: „Verlesen Text Reiseregelung“ – und dann sollte der Hinweis „Noch Fragen“ an die Journalisten ergehen. Die wollten denn auch gleich wissen, ab wann das in Kraft treten soll, dass DDR-Bürger einfach so reisen können. Schabowski nestelt in den Unterlagen herum, findet keinen Halt, nuschelt: „Das tritt nach meiner Kenntnis ... ist das sofort, unverzüglich.“ Der Rest ist bekannt.

Nicht bekannt ist aber bis heute, von wem das Haus der Geschichte 2014 für 25 000 Euro jenen Zettel gekauft, also mit Steuergeld bezahlt hat. Und so wird der Sitzungsaal I im OVG Münster, ein schmuckloser Zweckbau mit dem Landeswappen Nordrhein-Westfalens an der Holzwand hinter den Richtern in ihren roten Roben, zum Ort eines Krimis deutsch-deutscher Geschichte.
Hans-Wilhelm Saure ist einer der hartnäckigeren Journalisten des Landes. Der Chefreporter der Bild-Zeitung will seit zehn Jahren wissen, wer der Verkäufer des Zettels ist. Nach langen Beratungen verkündet Sander als Vorsitzender Richter des 15. Senats schließlich am frühen Dienstagabend in Münster „im Namen des Volkes“, dass das Haus der Geschichte den Namen rausrücken muss. Es ist nach einer Niederlage bei der Vorinstanz des Verwaltungsgerichts Köln im Jahre 2022 die nächste Schlappe, die beim Oberverwaltungsgericht in Münster eingelegte Berufung wird abgelehnt.
Schon 72 000 Euro an Anwaltskosten hat die Stiftung bezahlt, um den Namen nicht preisgeben zu müssen. Die Bedingung des Verkäufers war, dass ihm Anonymität zugesichert wird. Sonst droht, so sagt es Harald Biermann, Präsident der Stiftung des Hauses der Geschichte, die Rückabwicklung des Kaufes. Der Verlust des Zettels.
Hier geht es um viel, auch um wichtige Fragen zum Presse- und Informationsrecht
Das Gericht betont aber, dass das Informationsinteresse der Presse die Vertraulichkeitsinteressen des Verkäufers und der beklagten Stiftung überwiege. „Die Weitergabe der in Rede stehenden personenbezogenen Daten an den Kläger betrifft allein die Sozialsphäre des Zweitverkäufers“, so Sander. Das Gericht in Münster lässt aber wegen der grundsätzlichen Bedeutung die Revision zum Bundesverwaltungsgericht in Leipzig zu – denn, das zeigte die mündliche Verhandlung, hier geht es um viel, auch um wichtige Fragen zum Presse- und Informationsrecht.
Für die gerade erst eröffnete neue Dauerausstellung des Hauses der Geschichte in Bonn ist der Schabowski-Zettel zentral. Man läuft über einen langen Gang auf ihn zu, als wäre es die Mona Lisa. Er ist nach den grau gestalteten Räumen zur deutschen Teilung auch ein symbolischer Farbtupfer. In Panzerglas positioniert auf einem gelben Tisch, darüber eine Videoleinwand, die die Pressekonferenz von Schabowski vom 9. November 1989 zeigt. Nach dieser Station geht quasi die Sonne auf, Mauerfall, Wiedervereinigung, gelb ist nun die dominante Farbe. Jeder Besucher kann sich von einem Block eine Kopie des Zettels abreißen, mit „Übersetzung“ der Notizen auf der Rückseite. Etwa 40 000 Stück nehmen Besucher pro Jahr mit.
Beide Seiten betonen im Gerichtssaal immer wieder die herausragende historische Bedeutung, das öffentliche Interesse, kommen aber zu ganz unterschiedlichen Schlüssen. Der Anwalt Biermanns betont die Abwägungsentscheidung. Einerseits mit der Vertraulichkeitsvereinbarung die privaten Interessen des Verkäufers zu wahren und zugleich das überragende öffentliche Interesse, den Zettel zu erwerben und auszustellen, zu berücksichtigen. „Grundlage für den Erwerb des Zettels war die Anonymitätszusage gegenüber dem Zweitverkäufer.“
„Das nennt man in meinem Beruf Recherche“
Saure führt im Gericht an, die Witwe Schabowskis habe von einem Diebstahl gesprochen, es sei von überragendem öffentlichem Interesse, die Geschichte der Besitzer und des Verkaufs des Zettels zu erzählen. „Es wäre ja auch im Interesse des Hauses der Geschichte, dass der Vorwurf entkräftet wird“, meint Saure. Und es seien nun mal 25 000 Euro aus Steuermitteln ausgegeben worden. „Das nennt man in meinem Beruf Recherche. Und für diese Recherche ist die Antwort auf diese Frage sehr entscheidend.“ Jeder in Deutschland kenne diese Pressekonferenz mit Günter Schabowski. „Das hat zum Sturz der Berliner Mauer geführt. Das ist ein Fall, der gehört zur DNA der deutschen Geschichte.“
Wegen der möglichen Revision muss Saure jetzt wohl erst mal bis Anfang des kommenden Jahres warten, bis er weiß, ob er von Biermann den Namen des Erst- und des Zweitverkäufers bekommt. Die Sache ist vertrackt. Denn vom Hause Schabowski wanderte der Zettel zu einem ersten Besitzer, der ihn dem zweiten Besitzer verkaufte – von dem ihn das Haus der Geschichte erwarb, das vorher intensiv die Echtheit und die Vertrauenswürdigkeit des Verkäufers geprüft hatte. Während der Erstverkäufer mit der Preisgabe seines Namens kein Problem hat, lehnt der Zweitverkäufer das strikt ab. „Wir als Haus der Geschichte sind in einer Sandwich-Position“, meint deren Anwalt.
Der Vorsitzende Richter erörtert kurz auch die Möglichkeit, nur den Erstverkäufer zu nennen, denn der hat damit ja kein Problem, aber dann ließen sich wohl Rückschlüsse auf den Zweitverkäufer ziehen. „Man wird ja annehmen können, dass der Zettel damals nicht bei Ebay angeboten wurde.“ In einer anonymen Erklärung für das Verfahren lässt der Zweitverkäufer wissen, dass er damals im Kreis der DDR-Nomenklatura unterwegs war, aber danach ein unbehelligtes Leben führte. Diesen Umstand möchte er gewahrt wissen, er fürchte durch Namensnennung an das Licht der Öffentlichkeit gezerrt zu werden. Auch die Stiftung führt das immer wieder an, betont das Recht auf informelle Selbstbestimmung.
Biermann fürchtet ferner, bei einer Preisgabe keine solch wichtigen Exponate mehr zu bekommen, da sich Verkäufer nicht mehr auf Zusagen verlassen könnten. Er hat sogar mehrere Abrissblöcke mit dem Schabowski-Zettel in den Münsteraner Gerichtssaal mitgebracht und verteilt sie an Studenten, die diese juristische Lehrstunde über das Spannungsfeld zwischen dem Auskunftsanspruch der Presse und den Interessen des Verkäufers und der Stiftung verfolgen. Der Vorsitzende Richter wundert sich zwischenzeitlich über das große Interesse an der Verhandlung, viele im Saal seien bei Schabowskis missratenem Auftritt „ja nicht einmal im Ansatz geboren gewesen“.
Biermann ist bei der Urteilsverkündung schon gar nicht mehr da, er musste zur Wiedereröffnung der Bonner Beethovenhalle mit dem Bundespräsidenten. Saure hingegen nimmt sich gleich zwei Exemplare der Pressemitteilung mit, die noch im Saal verteilt wird.












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