Auftritt vor der UN: Wildbergers einsamer Kampf fürs freie Internet

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Leise ist es in der Vorweihnachtszeit in New York nicht. Sogar in der Generalversammlung der Vereinten Nationen geht es plötzlich, wenn über das Internet gesprochen wird, nicht mehr um Kabel, Server oder Protokolle. Sondern um Macht, Einfluss und die geopolitische Ordnung. Genau darum kreist auch die Debatte, die dieser Tage unter dem sperrigen Titel WSIS+20 firmiert – und die in Wahrheit eine Grundsatzfrage stellt: Wer entscheidet, wohin sich Internet und Digitaltechnologien entwickeln?

„Das Internet ist am stärksten, wenn es von allen geteilt, geformt und geschützt wird“, beschwört der deutsche Digitalminister Karsten Wildberger (CDU) auf die Delegierten UN-Generalversammlung. Eine Selbstverständlichkeit, eigentlich. Und doch ist nicht unbedingt mehr Konsens.

Wildberger ist für zwei Tage nach New York gereist, um ein Modell zu verteidigen, das lange als unspektakulär galt: den sogenannten Multistakeholder-Ansatz. Seit 2005 teilen sich Staaten, Unternehmen, Wissenschaft und Zivilgesellschaft Verantwortung und Einfluss bei der Weiterentwicklung des Internets. Zentrales Forum dieses Ansatzes ist das Internet Governance Forum (IGF), ein jährliches UN-Treffen ohne formale Entscheidungsmacht, das jedoch als Ort informeller Verständigung eine zentrale Rolle spielt. Das Problem: Dieses Mandat läuft zum Jahresende aus.

Forderung nach nationaler Souveränität

Dass auf dem zweitägigen Weltgipfel zur Informationsgesellschaft, kurz WSIS+20, das IGF-Mandat verlängert wird, war unstrittig. Mehr noch: Das Format soll zur ständigen Institution ausgebaut werden. Und doch zeigen sich die geopolitischen Veränderungen: China und Russland drängen seit Jahren darauf, die internationale Internetpolitik in klassische zwischenstaatliche Strukturen zu überführen. Aus ihrer Sicht ist digitale Ordnung eine Frage nationaler Souveränität. Der Multistakeholder-Ansatz gilt ihnen als westlich geprägt und politisch zu schwer kontrollierbar.

Das Internet ist am stärksten, wenn es von allen geteilt, geformt und geschützt wird.

Bundesdigitalminister Karsten Wildberger (CDU)

In den letzten Entwürfen zur Abschlusserklärung, die am Mittwoch verabschiedet wurde, war deshalb plötzlich ein neuer Passus aufgetaucht: Das IGF sollte künftig auch ein Segment erhalten, in der die Nationalstaaten unter sich diskutieren können. Ein trojanisches Pferd, um den Prozess doch in Richtung von Regierungsverhandlungen zu lenken?

Die Europäer stellen sich dieser Entwicklung entgegen. Für sie ist das offene Internet nicht nur Infrastruktur, sondern ein normatives Projekt. Die Dezentralität des Netzes und die Einbindung nichtstaatlicher Akteure seien Voraussetzung für wirtschaftliche Innovation, Meinungsfreiheit und globale Zusammenarbeit, betonte Wildberger. Deutschland kündigte an, das IGF mit einer Million Euro zu unterstützen – auch als Signal, dass der Multistakeholder-Ansatz politisch und finanziell verteidigt werden soll.

Was machen die USA?

Unklar bleibt jedoch die Rolle der Vereinigten Staaten. Unter Präsident Donald Trump interpretieren die USA ihr Verhältnis zu den Vereinten Nationen erneut destruktiv. Multilaterale Formate gelten in Washington als ineffizient oder ideologisch aufgeladen. Diese Skepsis trifft nun auch die Internet-Governance, obwohl gerade amerikanische Technologieunternehmen vom offenen Netz besonders profitieren.

Hinter den Kulissen werben die Tech-Firmen in Washington dafür, den Internet-Governance-Konsens nicht durch eine Kampfabstimmung in Frage zu stellen. Ein Bruch mit der bisherigen Konsenspraxis wäre ein Novum – und würde die internationale Internetordnung erheblich schwächen.

Der Süden fordert mehr Teilhabe

Parallel zur Machtfrage zwischen Staaten verläuft eine zweite Konfliktlinie: die digitale Ungleichheit zwischen globalem Norden und Süden. Zwar sind heute rund sechs Milliarden Menschen online, doch etwa zwei Milliarden haben weiterhin keinen Zugang zum Internet. Viele Länder des globalen Südens verbinden die Debatte über Internet-Governance daher mit Forderungen nach Finanzierung, Infrastruktur und Zugang zu neuen Technologien wie Künstlicher Intelligenz. Doch ohne konkrete Zusagen bleibt der Multistakeholder-Ansatz für sie eher eine abstrakte Frage.

Beobachter der internationalen Internetpolitik warnen vor den Konsequenzen eines Kurswechsels. Würde der Multistakeholder-Ansatz aufgegeben oder ausgehöhlt, erhielten Regierungen weitreichendere Eingriffsmöglichkeiten in technische Kernbereiche des Netzes. Nationale Infrastrukturen könnten stärker abgeschottet, grenzüberschreitende Kommunikation ins Stocken geraten.

Lange galt ein solcher großer Bruch als ausgeschlossen. Das hat auch damit zu tun, dass die wirklich kontroversen Digitalisierungsthemen - von einer globalen Digitalsteuer bis hin zur Altersbegrenzung für Social Media - in Prozessen wie dem WSIS+20 gar nicht aufgegriffen werden.

Und dennoch scheint der Raum für Konsensfindung auch in Infrastruktur- und Governance-Fragen kleiner zu werden. Es sind also keine technologischen Innovationen, die den offenen Charakter des Internets als Infrastruktur in Frage stellen, sondern geopolitische Machtverschiebungen.

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